Ein Mann in schwarz liegt auf dem Rücken auf dem Boden. Auf ihm liegt mit ihrem Rücken eine rothaarige junge Frau. Sie hat die Augen weit aufgerissen und streckt ihre Arme von sich.

Romeo und Julia

Ballett von Alfonso Palencia / nach dem Ballett von Sergei Prokofjew, Adrian Piotrowski, Leonid Lawrowski und Sergej Radlow / in der reduzierten Fassung von Tobias Leppert

PREMIERE 5. Oktober 2024 // Großes Haus

VORSTELLUNGSDAUER: ca. 2 Stunden und 15 Minuten // eine Pause nach ca. 50 Minuten

geeignet ab 13 Jahren

Einführung jeweils 30 Minuten vor Vorstellungsbeginn im Oberen Foyer

Vorstellungstermine

24.11.2024 um 15:00 Uhr Karten
28.11.2024 um 19:30 Uhr Karten
30.11.2024 um 19:30 Uhr Karten
20.12.2024 um 19:30 Uhr Karten
18.01.2025 um 19:30 Uhr Karten
26.01.2025 um 15:00 Uhr Karten

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Romeo und Julia ist eines der beliebtesten Werke von William Shakespeare. Seine emotionale Dichte fasziniert seit jeher: das Schicksal mit seinen Vorzeichen, die ein tragisches Ende einläuten. Die Klage des Paars, hervorgerufen durch die Feindschaft beider Familien und die Eile seiner Entscheidungen. Die Liebe als ständiger Gegensatz zu Hass. Und der Tod als einzige Möglichkeit, eine Liebe aufrechtzuerhalten, der nur Hindernisse im Weg stehen. In seiner Choreografie zu Sergei Prokofjews Musik nähert sich Alfonso Palencia der Geschichte aus einer humanistischen Sicht, um sie dem modernen Menschen nahe zu bringen.

Romeo und Julia

Ballett von Alfonso Palencia

Handlung

1. Akt

Morgendämmerung in Verona. Auf einem Marktplatz erscheint Romeo von Montague. Sein bester Freund Mercutio versteckt sich, um ihn zu überraschen.
Zunehmend treffen Leute ein, darunter die rivalisierenden Familien Capulet und Montague. Eine Schlägerei entsteht. Der Bürgermeister schlichtet.
Im Schlafgemach bereitet die Nanny Julias Umzug für den kommenden Ball vor. Julia soll dort auf Wunsch ihrer Mutter Paris kennenlernen.
Auf dem Ball ist auch Romeo. Julia und Paris tanzen, in seinen Bann gezogen hat er sie allerdings nicht. Julia trifft auf Romeo. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Tybalt beobachtet die Szene. Er fordert Romeo zu einem Duell auf, wird aber von Lady Capulet daran gehindert.
Auf ihrem Balkon träumt Julia von Romeo. Plötzlich erscheint dieser. Erneut erklären sich beide ihre Liebe. Sie verbringen die Nacht miteinander.

2. Akt

Auf dem Marktplatz denkt Romeo an Julia. Seine Freunde Mercutio und Benvolio wollen ihn ablenken. Julias Nanny überreicht Romeo einen Brief. Julia bittet Romeo, zu Bruder Lorenzos Kapelle zu kommen. Dort sollen beide heimlich getraut werden.
Auf dem Marktplatz herrscht ausgelassene Stimmung. Doch Tybalt provoziert Mercutio und fordert ihn zum Kampf auf. Mercutio erliegt seinen Wunden. Verzweifelt ersticht Romeo daraufhin Tybalt.
Lady Capulet gerät in einen Wahn. Sie hatte eine Affäre mit Tybalt.
Romeo wird aus der Stadt verbannt.

3. Akt

Romeo und Julia wollen die Nacht gemeinsam verbringen, bevor Romeo Verona verlassen muss. Am Morgen erscheinen die Nanny, Lady Capulet und Paris. Julia soll Paris so schnell wie möglich heiraten. Julia lehnt Paris als Gatten ab. Sie überlegt, wie sie der Verheiratung entkommen kann und sucht Rat bei Bruder Lorenzo.
Dieser gibt ihr einen Trank, der sie in einen scheintoten Schlaf versetzen wird. Der Plan ist, dass Julia zum Familiengrab gebracht wird. Dorthin kann Romeo kommen, um mit ihr zu fliehen.
Julia gibt vor, Paris als Partner zu akzeptieren. Dann nimmt sie den Schlaftrunk. Die Nanny und Lady Capulet finden Julia scheinbar tot. Am Tag der geplanten Hochzeit. Schuldgefühle tauchen auf. Entsetzt bereiten sie die Beerdigung vor.
Romeo wurde von Bruder Lorenzo nicht über den Plan informiert. Als er vom angeblichen Tod Julias hört, glaubt er diese schreckliche Nachricht. Fassungslos geht er zum Familiengrab der Capulets. Dort trifft er auf Paris. Er tötet ihn. Verzweifelt nimmt er sich anschließend selbst das Leben.

«Die Liebe ist ein Rauch, der aus dem Dunst der Seufzer entsteht. Geläutert werden, ein Feuer, das in den Augen der Liebenden funkelt. Ein Meer, genährt von den Tränen der Liebenden.»
Romeo
«Gebt mir meinen Romeo, und wenn ich sterben werde, Nimm ihn und zerschneide ihn in kleine Sterne, Und er wird das Antlitz des Himmels so schön machen, Dass alle Welt sich in die Nacht verliebt, Und der grellen Sonne keine Verehrung erweist.»
Julia

Von Trauer und Träumen

Die Geschichte von Romeo und Julia ist zeitlos. Ihr Ursprungsmotiv einer gegenseitigen Liebe, die alle Widrigkeiten überwindet, reicht über Tristan und Isolde bis in die Märchen und Geschichten antiker Mythologien zurück. Denn die Frage, ob Liebe Hass, Gewalt und politische Differenzen überwinden kann, stellt sich bis heute. Auch für den Choreografen Alfonso Palencia. Und seine Antwort lautet: Ja, sie kann es! Denn der Wunsch nach gemeinsamem Frieden ist in allen von uns vorhanden. Die Capulets und Montagues hassen sich zwar, vermischen sich aber immer wieder. Wie Gangmitglieder in Leonard Bernsteins West Side Story mustern sie sich und geben vor, nichts miteinander zu tun haben zu wollen. Doch die gegenseitige Annäherung hat ihren eigentlichen Wunsch nach Frieden schon verraten. Was hält sie zurück? Sicher die historische Tiefe des Konflikts. Aber auch Protagonist:innen, die sich an ihm berauschen und alte Wunden immer wieder aufreißen. So etwa Tybalt. Er gönnt niemandem etwas. Und trotz seiner Affäre mit Lady Capulet kann er es nicht ertragen, Julia mit einem anderen Mann zu sehen. Er provoziert, wo er kann. Das färbt ab. Lady Capulet etwa denkt nur noch an sich und ihre Affäre. Doch nach Julias scheinbaren Tod bemerkt sie ebenso wie Julias Nanny die Sinnlosigkeit des Konflikts. Beide zeigen tiefe Schuldgefühle. Lady Capulet, weil sie das Wohl ihrer Tochter aus den Augen verloren hat. Und die Nanny, weil sie zu schwach war, um sich endgültig auf Julias Seite zu schlagen.

Bei aller Düsternis rückt Alfonso Palencia auch Verspieltheit und Träume ins Zentrum. In einer zeitlosen Kulisse genießen die Protagonist:innen immer wieder, wenn auch scheinheilig, gemeinsam das Leben. Kontakt halten, wie tief der Hass auch verankert sein mag: Dafür sind viel Stärke und guter Wille vonnöten. Doch bleiben so Räume für Träume. Bereits Prokofjews Klangmagie entfaltet sie. So träumt Julia in der Balkonszene zunächst von besseren Zeiten, die kurz darauf vorrübergehend wahr werden. Dabei hebt Prokofjew jede Regung des Inneren hervor. Eine anmutige Melodie von Streichervibrati wird vom hohen, tupfenden Holz und tiefen Bässen im Untergrund umrahmt. Aus diesen Polen quellen zunächst gegenseitige Verzauberung und Verletzlichkeit. Doch sie münden in einer vereinten Instrumentation, einem Strom aus Leidenschaft, der jegliche Grenzen überwindet. Anschließend glauben die Liebenden, alles überstehen zu können.

«Dies alles ist zu zart, um wahr zu sein.»
William Shakespeare

Dafür wird die Kraft beider benötigt. Doch Prokofjew traute dies wohl nur Romeo zu. Denn die Musik lässt ihn mit vielseitigen Leitmotiven einen tiefergreifenderen Reifungsprozess als Julia erfahren. Im Stil eines Bildungsromans entwickelt er sich vom ungehobelten Draufgänger zum reflektierten Helden. Julia aber bleibt oft in ihrer Rolle als zierliche Frau haften. In der Choreografie erfährt sie jedoch eine Aufwertung. Denn während ihres Kampfes um Liebe muss sie nicht nur gegen einen tiefen Hass zweier Familien kämpfen, sondern auch gegen das förmliche Werben von Paris, der von den Capulets unterstützt wird, den Neid Tybalts und die Selbstsucht ihrer Mutter. Aus einem naiven Mädchen wird eine umsichtige, reflektierte und entschlossene Frau. Und Julia damit gleich stark wie Romeo. Denn Widrigkeiten überwinden, gelingt nur gemeinsam. Noch besser mit Liebe. Und sei es erst nach dem Tod.

Torben Selk

Balkonszene

 

Romeo

Sie spricht. Sprich weiter, Engel. Denn über mir bist du so schön, als hätte der Himmel einen Boten geschickt, wenn er auf schleichenden Wolken geht und jeden Menschenblick nach oben zieht.

Julia

Ach, Romeo, warum nur heißt du so. Dein Name ist nur mein Feind. Du bliebst du selbst, und wärst du auch kein Montague. Was ist denn Montague? Nicht Hand, nicht Fuß, weder Arm, noch Antlitz, noch ein anderer Teil des Mannes. Oh, ändre deinen Namen! Was ist ein Name? Was ich Rose nenne, riecht mit jedem Namen genauso süß. Genauso bewahrt Romeo seine Vollkommenheit, unabhängig von diesem Namen. Oh, Romeo, leg deinen Namen ab, und für den Namen, der kein Teil von dir ist, nimm mein ganzes Ich!

Romeo

Ich nehme dich beim Wort. Nenne mich Liebster, und ich bin neu getauft, ich will von nun an nicht mehr Romeo sein. Ich bin kein Steuermann, aber lebtest du am Ufer eines weit entfernten Ozeans: Den Weg zu finden, fiele mir nicht schwer.

Julia

So sehr ich mich über dich freue, so wenig freue ich mich über diese nächtliche Verbindung. Sie ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich. Zu ähnlich dem Blitz, der verschwunden ist, noch ehe man sagen kann: Es blitzt. Gute Nacht, Liebster! Diese Knospe aus Liebe kann sich durch den warmen Sommeratem zu einer schönen Blume entfalten, bis wir uns wiedersehn. Nun gute Nacht! Die süße Ruhe, die ich so tief empfinde, soll auch dein Herz erwärmen!

 

Impressum

HERAUSGEBER Stadttheater Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 5
INTENDANT Lars Tietje
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
GENERELAMUSIKDIREKTOR Marc Niemann
REDAKTION Torben Selk

QUELLEN
Bennet, Karen: Star-cross’d Lovers. In: Cambridge Quarterly (32/4). Oxford 2003.
Danuser, Hermann / Rolf, Arnold: Sergej Prokofjew. Laaber 1990.
Press, Stephen D.: Prokofiev’s balletts for Diaghilev. Aldershot 2006.
Shakespeare, William: Gesammelte Werke. Aus dem Englischen von Wolf Graf Baudissin, August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck und Gustav Wolff. Köln 2013.

Die Texte «Handlung» und «Von Trauer und Träumen» von Torben Selk sind Originalbeiträge für diesen Programmflyer. Zitate und Auszüge aus Gedichten wurden teils redaktionell bearbeitet.
Urheber:innen, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

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Besetzung

Ein Mikrofon mit Popschutz.

Prolog

Kurzeinführung zum Stück

Prolog

Kurzeinführung zum Stück

Einleitung zum Stück als Audio-Datei

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junger Spanier guckt freundlich in die Kamera

Wege aus dem Hass

Ballettdirektor und Chefchoreograf Alfonso Palencia im Gespräch

Wege aus dem Hass

Ballettdirektor und Chefchoreograf Alfonso Palencia im Gespräch

Romeo und Julia ist ein Literatur- und Ballettklassiker. Wie erzählst du das Werk?

Ich wollte mir und meinem Stil treu bleiben. Dazu zählt, die Tradition und Essenz des Stücks zu bewahren und die Handlung zu reflektieren. Ich habe Respekt vor der Kunst von Prokofjew, mir schweben keine Experimente vor. Aber ich möchte sein Werk durch meine Tanzsprache modern erzählen.

Romeo und Julia behandelt Themen, die aktuell sind, Liebe und Hass etwa. Wie priorisierst du diese in deiner Choreografie?

Auch heute noch treffen Menschen aufeinander, die unterschiedlich denken und fühlen. Menschen aus unterschiedlichen Klassen, Gangs mit verschiedener Herkunft. Diese Unterschiede für Einzelne zu überwinden, ist weiterhin schwierig. Wer aufbegehrt, riskiert einen Konflikt. In meiner Choreografie möchte ich zumindest eine Möglichkeit, eine Aussicht zeigen. Wie in Leonard Bernsteins West Side Story nähern sich die Gangs einander an. Sie betreten zu Beginn einen öffentlichen Platz, checken sich gegenseitig ab. Sie lästern übereinander, vermischen sich aber auch. Doch bei aller Hoffnung, die sich hier andeutet: Die Vermischung kann schnell zu Auseinandersetzung führen.

Was macht ein solch tief verankerter Hass mit deinen Figuren?

Tybalt verkörpert den Hass wie kein Zweiter. Er spielt den Macho, ist besessen und machtvoll, wird von allen Frauen geliebt. Er hasst Romeo und die Montagues. Er hasst auch alle, die Julia mag. Ansonsten gibt es bei mir insbesondere drei Frauen, die gegen den Hass angehen oder ihn selber ausüben: Julia, die für ihre Liebe kämpft und Hindernisse überwinden muss. Dann die Nanny, die Julia begleitet und sich um sie wie eine Mutter kümmert. Beide brauchen viel Stärke für ihren Weg. Und schließlich Lady Capulet. Sie ist egozentrisch und hat eine Affäre mit Tybalt. Sie ist so stark auf ihn fixiert, dass sie Julias Widerwillen vor Paris und ihre Verliebtheit in Romeo kaum bemerkt. Tybalts Tod erträgt Lady Capulet nicht, sie gerät in Rage vor Wut und Verzweiflung. Erst Julias scheinbarer Tod öffnet ihr die Augen. Sie zeigt Schuldgefühle, sich nicht genug um ihre Tochter gekümmert zu haben. Ich arbeite gerne mit diesen Dreierkonstellationen. Sie haben etwas Archetypisches. Die Heilige Dreifaltigkeit aus Vater, Sohn und dem Heiligen Geist etwa. Bei Romeo und Julia ist sie bei den Männern mit Romeo, Mercutio und Benvolio schon angelegt. Insofern möchte ich die Frauen aufwerten.

Drückt sich die Spaltung der Gesellschaft auch im Kostüm- und Bühnenbild aus?

Ich bat Dorin Gal, die klassische Seite des Stücks nicht aus den Augen zu verlieren, aber auch um einen zeitlosen Stil. Einen Minimalismus, mit dem die Tänzer:innen im Vordergrund stehen können. Es gibt fünf Schauplätze: den Marktplatz, Julias Zimmer, das Haus von den Capulets, die Kapelle und die Gruft. Vor allem Zitate deuten die Orte an. Arkaden etwa den Marktplatz, ein Bett mit Vorhang Julias Zimmer oder Videoprojektionen Verona. Die fünf Räume zu verbinden, ist technisch eine Herausforderung. Vor allem wegen der Umbauten, die eine gewisse Dynamik nicht verhindern dürfen. Das Stück ist lang. Es darf keine Langeweile entstehen. Wie der Tanz muss auch die Bühne ihre Bewegung finden. Das hat Dorin toll gemacht. Mit den Kostümen war es ähnlich. Auch hier setzen wir auf Minimalismus. Zwei Farben stehen im Zentrum: schwarz und weiß. Sie stehen für die beiden Familien. Beide tragen gleichzeitig immer auch grau. Darin deutet sich eine Möglichkeit der Überschneidung zwischen den beiden Familien an. Denn mir bleibt wichtig, zu zeigen: Hass kann überwunden werden. Aufeinander zuzugehen und Gemeinsamkeiten zu suchen, ist der erste Schritt.

Die Fragen stellte Torben Selk.

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Die Schönheit der Vielfalt

Generalmusikdirektor Marc Niemann im Gespräch

Die Schönheit der Vielfalt

Generalmusikdirektor Marc Niemann im Gespräch

Romeo und Julia ist eines der bekanntesten Werke der Ballettliteratur überhaupt. Was zeichnet das Werk für dich aus?

Romeo und Julia nimmt einen Sonderstatus im Ballettrepertoire ein. In vielen Balletten hat das Orchester reine Begleitaufgaben. Hier werden wir sehr gefordert. Der musikalische Gehalt ähnelt dem eines Sinfoniekonzerts. Die musikalischen Strukturen sind sehr komplex. Romeo und Julia ist sehr gut komponiert, sehr melodiös, man hat fast jede Nummer im Ohr.

Hast du schon Erfahrungen mit dem Werk?

Ich habe Romeo und Julia schon mal in Bremerhaven dirigiert, aber nicht einstudiert. Ich bin damals eingesprungen, weil unser 1. Kapellmeister im ICE saß, der wieder irgendwo hängengeblieben war. Dann hat unser damaliger Ballettdirektor überlegt: Er kennt das Stück so gut, er könnte es dirigieren. Das haben wir mit dem Orchester ausprobiert, was aber nicht so von Erfolg gekrönt war. Dann habe ich gesagt: Ok, ich dirigiere das vom Blatt, denn ich habe das ja früher schon einmal gemacht. Und er stellt sich neben mich auf die Treppe zum Dirigentenpult und sagt immer, wie schnell oder langsam die Stelle sein soll. So haben wir uns eine Vorstellung durchimprovisiert, und das hat gar nicht schlecht funktioniert.

Prokofjew gilt auch als Vertreter des Neoklassizismus. Wie setzt er ihn um?

Prokofjew verwendet zwar das Dur-Moll-Schema. Aber es gibt immer gewisse Abweichungen. Die Akkordfolgen passen nicht immer ins herkömmliche Schema. Auch der Umgang mit den Melodien. Das Werk ist zwar sehr melodiös. Wenn man sich aber vornimmt, mal eine Melodie nachzusingen, ist das gar nicht so einfach. Denn sie sind meistens doch chromatisch oder enthalten ungewohnte Passagen. Das ändert auch den Ausdruck. Dann griff Prokofjew noch auf viele alte Musikformen zurück. Etwa auf eine Gavotte oder ein Menuett, also Gattungen aus dem Barock. Auch in der eigentlichen Komposition werden Anlehnungen an ältere Musik deutlich. Es ist etwa immer klar, wo die Melodie oder die Begleitung stattfindet. Auch die Mehrstimmigkeit des Werks ist typisch für die vorromantische Zeit. Damit zieht er sämtliche Register, um eine neue Art von Verständlichkeit und Bildhaftigkeit zu erreichen. Das hing sicher auch mit der damaligen Doktrin des Stalinismus zusammen. Kunst musste für die Bevölkerung leicht und verständlich sein. Wer zu modern komponierte, landete wegen des Verdachts, dem Westen nahezustehen, schnell im Gulag. Dmitri Schostakowitsch kann mit seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk ein Lied davon singen. Nach dieser Oper hat er immer einen gepackten Koffer unter dem Bett bewahrt, falls er nachts von der Geheimpolizei abgeholt werden sollte. Aber Prokofjew hat es trotzdem geschafft, sich unter solchen Umständen zu entfalten. Er trifft die Emotionalität von Shakespeare. Die musikalischen Bilder sind plastisch und verständlich gezeichnet. Man hört die Handlung manchmal schon in der Musik. Wie bei Puccini-Opern, bei denen sich Regisseure beschweren, was denn noch groß inszeniert werden solle, es stehe doch schon alles in der Musik, es könne nur da langgehen.

Wie «modern» ist das Werk?

Es gibt den Moment, wenn der Bürgermeister den Kampf stoppt und ein dissonantes Cluster erklingt. Das ist tatsächlich sehr modern, sehr zwölftönig gedacht. Aber im Vergleich mit dem, was in den 1930ern um Schönberg und Co. sonst komponiert wurde, ist das Stück nicht sehr modern. Prokofjew ist eher ein konservativ denkender Komponist gewesen, was ihm auch oft zum Vorwurf gemacht wurde. Aber die Musik hat sehr viel russisches Pathos und russische Melodie. Das findet man bei Strawinsky nicht.

Wie herausfordernd ist das Werk für euch im Graben?

Instrumentaltechnisch muss extrem viel abgeliefert werden. Es ist sehr schwer, jeder muss einmal hervortreten und zeigen, was er kann. Nicht nur die Geigen haben hohe Passagen, sondern auch die Celli. Prokofjew liebt hohe Celli. Die stehen bei ihm oft im hohen Violinschlüssel. Das ist ungemein schwer, da die Abstände für die Töne, die man dafür zu greifen hat, winzig sind. Bei der kleinsten Abweichung des Griffs hat man einen unsauberen Akkord. Und das Werk ist für alle schnell und virtuos. Vor allem ist es nicht immer einfach, die Stimmungen und Charakterwechsel zu treffen. Wir müssen alle unheimlich schnell umschalten bei den Nummern. Jetzt ist noch die Amme da, die hat mehr eine skurrile Musik. Plötzlich kommt dann wieder die Weichheit des Madrigals. Oder es gibt eine Liebesszene beim Ball, worauf eine Kampfmusik folgt, da Tybalt Romeo und seine Freunde mit den Masken erkennt. Man muss sehr viel vorausdenken und darf den großen Bogen nicht verlieren. Prokofjew hat dafür vorgesorgt. Vieles ist leitmotivisch gedacht: Motive sind Figuren oder Ideen zugeordnet und kehren in verschiedenen Ton- und Taktarten sowie Instrumentalkombinationen wieder. Wir fragen uns immer: Meint er das Thema im Sinn des ersten Akts, hat sich die Figur verändert, muss das Thema ein bisschen schneller, ein bisschen leidenschaftlicher sein oder sogar langsamer? So erhält das Stück einen großen Bogen.

Schweres Blech, Klangfarben, Leitmotive: Das klingt erst einmal sehr nach Wagner. Wieviel von ihm steckt in Prokofjew?

Es ist ähnlich, aber nicht mehr spätromantisch. Das Blech hat gar nicht so viel zu spielen. Wenn aber, dann ist es sehr prominent. Prokofjew ist sehr durchhörbar. In der Romantik etwa dient die Tuba der Grundierung der Posaunen, ist Bestandteil dieses Mischklangs. Bei Prokofjew spielt sie oft alleine. Oder mit den Hörnern oder Holzbläsern. Hindemith und Strawinsky haben auch gerne so transparent instrumentiert. Strawinsky gilt als Meister der «Spaltklänge». Das war eine Abwendung von den spätromantischen «Mischklängen». Der Klang wurde immer feindifferenzierter. Manches an seiner Instrumentation klingt beinahe magisch. Es gibt immer etwas zu entdecken.

Die Fragen stellte Torben Selk.

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Sergei Prokofjew steht am Dirigentenpult. Die Aufnahme ist in sepia.

Die Entstehung von «Romeo und Julia»

Entstehungsgeschichte in zeitlicher Abfolge

Die Entstehung von «Romeo und Julia»

Entstehungsgeschichte in zeitlicher Abfolge

1934

Herbst: Zusammen mit seinem 2. Violinkonzert op. 63 entstehen erste Pläne und Vorarbeiten zu einem Ballett nach Shakespeares Romeo und Julia. Das Leningrader Opern- und Ballett-Theater unterstützt die Pläne zunächst. Doch nach der Ermordung Sergei Kirows, ein Leningrader Parteisekretär und Getreuer Stalins, macht sich allgemeines Misstrauen breit. Der Intendant Sergei Radlow, der auch am Libretto mitwirkt, wird entlassen. Prokofjew kann das Moskauer Bolschoi-Theater überreden, sich dem Projekt anzunehmen.

1935

Frühjahr: Erste Arbeiten mit Radlow am Szenarium. Der Ballettmeister Leonid Lawrowski tritt beratend hinzu.

1935

Sommer: Das Bolschoi-Theater bezeichnet die Musik als nicht genügend tänzerisch und tritt vom Vertrag zurück. Doch Prokofjew lässt sich nicht unterkriegen. Er arbeitet weiter. Um einen möglichst realistischen Schluss zu ermöglichen, denkt er sogar daran, Julia überleben und das Stück glücklich enden zu lassen: «Lebende können tanzen. Tote nicht.» Doch v. a. die Reaktionen in Russland halten ihn davon zurück: «Seltsamerweise wurde in London lediglich zur Kenntnis genommen, dass ich ein Ballett zu Romeo und Julia mit einem Happy End schreibe. Unsere Shakespeareforscher in Russland hingegen warfen sich päpstlicher als der Papst zu Verteidigern des vergewaltigten Shakespeare auf. Aber etwas anderes stimmte mich bedenklich. Jemand sagte: ‹Genau genommen hat Ihre Musik am Schluss keinen wirklich heiteren Ausdruck!› Das war richtig. Nach mehreren Besprechungen mit den Ballettmeistern ergab es sich, dass auch ein tragisches Ende tanzmäßig ausgedrückt werden könnte.»

1936

Mai: Prokofjew zieht wieder dauerhaft mit seiner Familie in die Sowjetunion. Das kulturpolitische Klima hat sich mittlerweile geändert. Der «Sozialistische Realismus» ließ den Künstlern kaum Spielraum. Beispielhaft sind die Repressalien auf Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk von 1936. Stalin bezeichnete die Oper seines Erzfeindes zwei Jahre nach der Uraufführung als «Wirrwarr», worauf die Opernhäuser gezwungen waren, sie trotz monatelang ausverkaufter Vorstellungen abzusetzen. Schostakowitsch wurde zum Staatsfeind und sein Leben zum Drahtseilakt. Prokofjew aber hatte vergleichsweise Glück. Er vermied direkte Provokationen und erklärte sich bereit, dem Regime und der Gesellschaft zu dienen. Er komponierte etwa Märsche, eine Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution und 1939 einen Trinkspruch zu Stalins 60. Geburtstag. So erhielt er Privilegien. Er durfte etwa unterrichten und in den Westen reisen. Dennoch blieb seine endgültige und freiwillige Rückkehr in die Sowjetunion rätselhaft. Igor Strawinsky unterstellte Prokofjew finanzielle Intentionen. Doch Tantiemen aus seinen Sinfonien und Klavierkonzerten gewahrten ihm finanzielle Unabhängigkeit. Prokofjews Sohn Swjatoslav fand folgende Erklärung: «Als echter russischer Mensch hatte er Heimweh nach Russland. Wenn er zu Konzerten in die Sowjetunion reiste, traf er sich mit vielen alten Freunden, nun, und alte Freunde, das sind keine neuen Freunde.»

1936

Prokofjew erstellt zwei siebensätzige Ballettsuiten mit den wichtigsten Charakterbildern aus Romeo und Julia. Die Suiten werden in den Konzertsälen begeistert aufgenommen.

1937

Prokofjew verwendet in den Zehn Klavierstücken op. 75 Melodien aus seinem Ballett. Damit wollte er nach den beiden Suiten erneut die Wirksamkeit der Themen testen.

1938

30. Dezember: Romeo und Julia wird in Brünn unter der choreografischen Leitung von Ivo Psota uraufgeführt. Doch das Werk bleibt unbeachtet.

1940

11. Januar: Das Werk wird in Leningrad aufgeführt. Wegen der überwältigenden Resonanz wird diese Aufführung auch als Uraufführung bezeichnet. Die Anforderungen blieben aber v. a. für die Tänzer:innen hoch. Galina Ulanowa, die mit der Rolle der Julia Weltruhm erlangte, berichtet: «In Prokofjews Musik gibt es viel Unerwartetes, Ungewohntes, für den Tanz Unbequemes. Der häufige Wechsel der Rhythmen z. B. verursachte den Darsteller:innen Schwierigkeiten. Als wir alle nach der ersten Aufführung zusammenkamen, konnte ich mich nicht enthalten, zu sagen: ‹Kein herberes Los gibt’s, möchte ich wetten, als die Musik Prokofjews in Balletten.›» Prokofjew selbst aber fand mit dem Werk zu einer neuen, einfachen Musiksprache. Ein klarer und bildhafter Ausdruck wurde für ihn nun maßgebend.

 

Torben Selk

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Pressestimmen