Mich beschäftigt das Ende der Demian-Geschichte. Nachdem wir Emil Sinclair beim Heranwachsen begleitet haben, bei seinem Versuch, sich von den tradierten Werten der Elterngeneration zu befreien und seinen ganz eigenen Weg zu gehen, bricht am Schluss wie ein Unwetter der Erste Weltkrieg über ihn herein. Emil glaubt, dass dies die Erfüllung seines Schicksals sei, und wird Soldat. Der, der ganz auf sein individuelles Innerstes hören wollte, kämpft uniformiert neben Millionen anderen. Kommt Emil da von seinem Weg ab, verirrt sich in der Kriegsbegeisterung, die ja viele Intellektuelle 1914 zumindest kurzzeitig verspürten? Oder ist das Ende im Krieg, das Mittun beim Töten eine logische Konsequenz der permanenten Innenschau, bei der die äußere Realität an Bedeutung verliert?
Ich lese Hesses Protagonisten als Suchenden, der stets um seinen Platz in einer krisengebeutelten Welt ringt – als Kind einer Generation, die vor der Verantwortung steht, das politisch gespaltene Europa neu zu denken. Emil beschreibt einen Grundkonflikt, den er zwar innerlich austrägt, der aber die Polarisierung der Zeit widerspiegelt: Was ist «gut», was «schlecht», was zukunftsfähig, was überholt? Wer definiert diese Begriffe überhaupt und was löst es aus, sie anders zu denken? Vielleicht sind es diese Fragen, von denen sich Emil und viele andere seiner Generation aufgefordert fühlen, die Welt, in der sie leben, neu zu definieren – auch wenn dafür etwas anderes kaputtgehen muss.
Hat dieses Bedürfnis nach Zerstörung, nach einem «tabula rasa»-Moment, damit zu tun, dass in Emils Erziehung durch Eltern und Kirche alles Destruktive, Aggressive, «Böse» mit Scham besetzt und nicht als Teil der menschlichen Natur anerkannt wurde?
Emil spürt, dass das Bestehende eine Sackgasse ist, entwickelt eine nachvollziehbare Sehnsucht nach Erneuerung und gleitet darüber in die Verdrängung der Realität und die Verklärung von Gewalt. Formuliert man die Geschichte so, erinnert sie mich auch an gegenwärtige Phänomene, wo Menschen nicht einverstanden sind, sich dann abkapseln und gefährlich radikalisieren.
Vielleicht kommt das Missverständnis, das dabei häufig vorliegt, durch die Annahme zustande, einfache Antworten auf komplexe Fragen gefunden zu haben. Diese scheinen zwar für Einzelne momenthaft zu funktionieren, lassen aber jegliche Konsequenzen für andere außer Acht. Auch Emil erliegt diesem Trugschluss. Er denkt, er sei auf der Seite der Wissenden, der «Gezeichneten», die sich dazu bereiterklärten, sich der Neuordnung der Welt uneingeschränkt hinzugeben.
Du benennst da einen wichtigen Punkt. Wenn Emils Freund Max Demian am Ende sagt: «Es wird mir ja im Grunde kein Vergnügen machen, Gewehrfeuer auf lebende Menschen zu kommandieren, aber das wird nebensächlich sein», sieht man, wie zynisch diese Selbstbeschäftigung sein kann: Die persönliche Sinnsuche, die angebliche Verwirklichung irgendeines abstrakten und völlig leeren Schicksals steht über dem ganz konkreten Leben von Menschen. Und schließlich zieht auch Emil fasziniert in den Krieg.
Manchmal habe ich den Eindruck, Hesse wagt mit seiner Figur Emil ein Gedankenspiel, eine Art Experiment, an dem sie scheitert: Was passiert, wenn man einem Menschen uneingeschränkte Mündigkeit über sein eigenes Handeln und Denken verleiht, frei von ethischen oder moralischen Konzepten? An Emil kann man erkennen, dass ein Lösen von gesellschaftlichen Zwängen durchaus den Horizont erweitern kann. Doch anstatt diese Erkenntnisse als etwas Verbindendes zu begreifen, das Empathie für andere nährt, verliert sich Emil in Überheblichkeit und schottet sich von der Außenwelt ab. Ich frage mich, wie sehr er selbst den Weg in die Überzeugung findet, Zerstörung sei die einzige Lösung – oder lässt er sich erst von Max Demian zu solchen Gedanken verleiten?
Demian ist Emils Lehrmeister und Vorbild. Dabei wirkt er oft gar nicht wie eine Figur aus Fleisch und Blut. In der Rezeption des Romans wurde die Demian-Figur häufig als eine Art Alter Ego von Emil gelesen, als eine innere Stimme, von der Emil im Laufe der Geschichte lernen muss, dass sie seine eigene ist. Vielleicht lässt sich das gar nicht abschließend entscheiden. Was ich interessant daran finde, ist, dass in dieser Uneindeutigkeit etwas sichtbar wird: Wir haben unsere Identität nicht in der Hand. Es gibt einen Teil in der eigenen Subjektivität, der einem fremd ist. Das ist auch ein beunruhigender Gedanke. Möglicherweise ist Emil auch so rastlos, weil er das nicht akzeptieren will.
Friederike Weidner und Elisabeth Kerschbaumer