Handlung
1. Akt
Hänsel und Gretel sollen den Eltern im Haushalt helfen, wollen aber lieber spielen, während sie den Geburtstag ihrer Mutter vorbereiten. Diese kommt erschöpft von der Arbeit zurück und findet das reinste Chaos vor. Sie schickt die Kinder ins Bett. Auch nachdem der Vater nach Hause gekommen ist, herrscht weiter Streit. Gertrud redet abfällig über ihre Kinder. Gekränkt schleichen sie sich aus der Wohnung und fliehen endgültig in ihre Fantasie.
2. Akt
Hänsel und Gretel sammeln Erdbeeren und spielen. Langsam wird es unheimlich so alleine. Wie kommen sie zurück nach Hause? Erst mal drüber schlafen: Das Sandmännchen versetzt sie in einen Traum, während sie von Waldgeistern beschützt werden.
3. Akt
Das Taumännchen weckt die Kinder am Morgen. Sie sehen auf einmal ein von Zuckerglasur überzogenes, buntes Häuschen. Ähnelt das nicht der Nachbarswohnung mit «der Alten» über ihnen? Egal, im Vorgarten sind Lollis, Zuckererdbeeren und riesige Kaugum-miblasen! Dort treffen sie auf eine mysteriöse Frau. Kann man ihr trauen? Plötzlich überwältigt sie Hänsel und Gretel und will sie in Kaugummikinder verwandeln. Doch in der eigenen Fantasie können sich die Kinder auch aus einer solchen Lage befreien. Fehlt nur noch die Versöhnung mit den Eltern, die längst nach ihnen suchen.
Ein «Kinder-Workshop» für die Inszenierung
Was passiert, wenn die Fantasie von Kindern real wird? Diese Frage haben sich die Regisseurin Marie-Christine Lüling und die Bühnen- und Kostümbildnerin Judith Philipp gestellt. Die Welt der Kinder erstreckt sich über die gesamte Handlung. Hänsel und Gretel tanzen im Kinderzimmer, und allmählich machen im Hintergrund auch ihre Puppen mit. Die Öde des Erwachsenenalltags wird auf den Kopf gestellt und öffnet einen bunten, aus dem Himmel zur Erde niederwachsenden Wald mit Erdbeeren an seinen Farnen und Blättern. Augenpaare lugen interessiert aus dem Nachthimmel, was die Kinder so treiben. Waldgeister wachsen aus dem Grün und beschützen sie. Und auf einmal ein buntes Ziegelsteinhaus mit Zucker- und Streusel-Glasur auf dem Dach. War das eben nicht noch die öde Nachbarswohnung? Egal, im Vorgarten sprießen baumgroße Lollis und buschige Zuckererdbeeren!
Aber wie lässt sich kindliche Fantasie überhaupt auf einer Opernbühne darstellen? Am besten, man fragt die Kinder selbst. Die Theaterpädagoginnen Schirin Badafaras und Elisabeth Schneider haben dafür einen Workshop für Kinder an der örtlichen Friedrich-Ebert-Grundschule durchgeführt, den die Kolleginnen in guter Erinnerung haben: «Judith Philipp wollte sich für die Kostüme der Waldgeister, die in der Oper auftauchen, von kindlicher Kreativität inspirieren lassen. So erreichte uns Ende letzter Spielzeit ein Paket, gefüllt mit buntem Papier, Wackelaugen, schillernder Folie und vielem mehr. Der Auftrag: Waldgeister mit Kindern basteln. Wie stellen sich Kinder schützende Waldgeister vor, die nachts auftauchen und sie bewachen?
Wir machten uns auf den Weg in die Friedrich-Ebert-Grundschule und erklärten zehn Viertklässler:innen unsere Bitte. Sie hörten aufmerksam zu und freuten sich, die Produktion mit ihren Ideen unterstützen zu können, und dass ihre Expertise gefragt war. Sie stürzten sich auf die Bastelmaterialien und sprudelten sofort über vor Ideen. Die Stimmung war heiter und konzentriert. Entsprechend verflogen die 45 Minuten der Schulstunde sehr schnell. Am Ende stellten alle ihre Waldgeister vor: Von plüschig, glänzend, gefiedert, bunt, bis hin zu strubbelig war alles dabei. Natürlich bekamen die Waldgeister auch Namen: Puschel, Nordchen und Friedel zum Beispiel. Die Kinder amüsierten sich sehr über die Entwürfe und waren schon ganz gespannt, welche davon sie wohl später in der Oper wiedererkennen werden.
Wir waren begeistert von der Vielfalt der Entwürfe und auch ein bisschen überrascht, wie leicht den Kindern diese Aufgabe fiel. Es hat ungemein Spaß gemacht zu sehen, wie schnell sich die Freude am kreativen Arbeiten in ihnen entfachte. Doch so unterschiedlich die Entwürfe der Waldgeister auch aussehen, haben sie eine Gemeinsamkeit: nachts im Wald dafür zu sorgen, dass Hänsel und Gretel nichts passiert.»
Torben Selk
HÄNSEL UND GRETEL in der Geschichte
1697
In Frankreich floriert mit Petit Poucet ein ähnliches Märchen wie Hänsel und Gretel der Brüder Grimm.
1800
In Thüringen verbreitet sich das aus der Oper so berühmte Volkslied «Brüderchen, komm tanz’ mit mir».
1812
20. Dezember: Die Brüder Grimm veröffentlichen mit insgesamt 86 Märchen die erste Auflage ihrer Sammlung.
1845
Ludwig Bechsteins Märchenbuch mit einer Übersetzung von Petit Poucet als Der kleine Däumling erscheint.
1854
1. September: Engelbert Humperdinck wird in Siegburg nahe Bonn geboren.
1880
9. März: Humperdinck meldet sich ohne Empfehlung in der Villa Angri in Neapel an, wo Richard Wagner mit seiner Familie über den Winter residiert. Cosima empfängt ihn herzlich. Eine lebenslange Freundschaft und gegenseitige Förderung mit der Familie entsteht.
1890
August: Humperdinck vertont vier Lieder über Hänsel und Gretel, nachdem seine Schwester Adelheid zuvor die vier Gedichte schrieb. Anschließend verarbeitet er die Lieder zu einem kurzen Singspiel.
Ab 1891
Humperdinck arbeitet das Singspiel schrittweise zur Oper um. Dafür wandert er durch Westfalen und das Rheinland, um sich Volkslieder vorsingen zu lassen, die er entweder ganz oder in Teilen in die Oper integriert.
1893
23. Dezember: Das Weimarer Hoftheater bringt die Oper mit Richard Strauss als Dirigent überaus erfolgreich zur Uraufführung, jedoch nicht vollständig: Das Vorspiel liegt noch in der Post.
1894
30. November: Cosima Wagner, Richards Frau, inszeniert die Dessauer Erstaufführung von Hänsel und Gretel. Humperdinck komponiert für ihren Schlusstriumphmarsch der Kinder extra den «Dessauer Schluss» mit zusätzlichen Kinderinstrumenten wie Trommeln und Rasseln nach.
1921
27. September: Humperdinck stirbt in Neustrelitz.
1923
6. Januar: Erstmals wird mit Hänsel und Gretel eine vollständige Oper aus einem Theater live im Radio übertragen. Die Aufführung selbst fand im Londoner Covent Garden statt.
1962
15. Juli: Der Mittelschullehrer Georg Ossegg macht nach Aus-grabungen auf einem Grundstück im bayrischen Spessart-Gebirge nahe der hessischen Grenze einen merkwürdigen Fund: Denn im Ofen eines im Wald versteckten Hauses liegt neben schwarzen Lebkuchenbruchstückchen eine Frauenleiche. Es handelt sich wohl um die Vorlage der Hexe aus Hänsel und Gretel. Die Geschichte wird rekonstruiert: Die Frau ist Katharina S., die Besitzerin des 1638 noch neuartigen Lebkuchen-Rezepts. Ein herzoglicher Hofbäcker aus Nürnberg wollte sie heiraten, um so an das Rezept zu gelangen. Sie lehnte ab und versteckte sich wegen dessen hartnäckiger Werbung im Wald. Der zurückgewiesene Bäcker wollte sie daraufhin vor Gericht zur Hexe erklären und verbrennen lassen – erfolglos. So folgte er ihr mit seiner Schwester Grete, erwürgte Katharina und schob sie in den Ofen. Das in der Hauswand versteckte Rezept fand er trotzdem nicht. Erst 300 Jahre später wurde es entdeckt.
Torben Selk
Impressum
HERAUSGEBER Stadttheater Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 12
INTENDANT Lars Tietje
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
GENERALMUSIKDIREKTOR Marc Niemann
REDAKTION Torben Selk
QUELLEN
Gelbart, Matthew: The Invention of «Folk Music» and «Art music». Emerging categories from Ossian to Wagner. Cambridge 2011.
Die Texte «Handlung», «Ein ‹Kinderworkshop› für die Inszenierung» und «Hänsel und Gretel in der Geschichte» von Torben Selk sind Originalbeiträge für diesen Programmflyer.
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