Programm
Dirigent: Marc Niemann
Violoncello: Alban Gerhardt
Philharmonisches Orchester Bremerhaven
ETHEL SMYTH (1858-1944)
The Wreckers (Die Strandräuber): On the Cliffs of Cornwall
EDWARD ELGAR (1857-1934)
Konzert für Violoncello und Orchester e-Moll op. 85
Adagio – Moderato
Lento – Allegro molto
Adagio
Allegro – Moderato – Allegro, ma non troppo – Poco più lento
JOSEPH HAYDN (1732-1809)
Sinfonie Nr. 103 («Mit dem Paukenwirbel») Es-Dur Hob. I:103
Adagio – Allegro con spirito
Andante più tosto Allegretto
Menuet – Trio
Finale – Allegro con spirito
Dauer:
ca. 1 Stunde 30 Minuten // eine Pause nach 40 Minuten
ETHEL SMYTH
The Wreckers (Die Strandräuber): On the Cliffs of Cornwall
Dauer: ca. 8 Minuten
Entstehung: 1906
Ethel Smyths zähe Persönlichkeit blieb einmalig in der Opern-geschichte. Durch Hungerstreik, Schweigen und das Aussetzen gesellschaftlicher Pflichten wie den Besuch von Kirchen, Dinners und Bällen erzwang sie von ihren Eltern die Erlaubnis, 1877 in Leipzig Komposition studieren. Dort erfuhr sie wegen ihres Geschlechts Ablehnung. Doch das stählte sie nur noch mehr. Ihre Oper TheWreckers konnte sie erst nach einer nervenaufreibenden Suche mit vielen Absagen am 11. November 1906, drei Jahre nach Fertigstellung, am Opernhaus Leipzig uraufführen lassen. Das Werk fügt sich mit seinem Zwiespalt über Recht und Unrecht in Smyths eigene Gesellschaftskritik über die Unterdrückung der Frauen. Es behandelt eine Gemeinschaft auf einer Insel, die mit Irrlichtern Schiffe auf Grund laufen lässt und ausraubt. Andere Einkommensmöglichkeiten bestehen nicht. Ein Paar gerät zwischen die Fronten, indem es die Schiffe vor den Irrlichtern warnt. Gegenseitiges Misstrauen entsteht. Fest steht: Verräter werden hingerichtet.
On the Cliffs of Cornwall leitet den 2. Akt ein. Die Gemeinschaft hat gerade vom Verrat aus den eigenen Reihen erfahren. Die Musik schält die gesamte Härte des gesellschaftlichen Klimas und der Atlantik-Witterung im Stil der Wagner-Nachfolge und schon mit Blick auf Brittens Peter Grimes heraus. Dissonante Flöten über harten, wellenartigen Harfenbewegungen schaffen ein Misstrauen, das sich bis ins Fieber steigert. Darin stauen sich moralische Zweifel mit den Existenzängsten der Gemeinschaft und ihrer Härte an. Das Andantino schafft einen Gegensatz. Zärtliche Melodien entfalten sich und drücken die Hoffnung der Liebenden aus.
Die Uraufführung entfachte Begeisterung. Allerdings wurde gegen Smyths Willen gekürzt. Ihre Beschwerde erwiderte der Dirigent Richard Hagel, die Oper werde am zweiten Abend genauso gespielt wie am ersten, oder gar nicht. Also kletterte Smyth am nächsten Morgen in den Orchestergraben, sammelte die Noten von den Pulten ein, klemmte sich die Dirigierpartitur unter die Arme und reiste nach Prag, um die Oper dort aufführen zu lassen. Diese Aktion blieb einmalig in der Operngeschichte. Wie Smyths Persönlichkeit.
Torben Selk
EDWARD ELGAR
Konzert für Violoncello und Orchester e-Moll op. 85
Dauer: ca. 30 Minuten
Entstehung: 1918-1919
Edward Elgar hatte es schwer. Geboren in Broadheath im Umfeld von Birmingham wuchs er als Katholik im protestantischen England mit dem Wunsch auf, Komponist zu werden. Und das auf dem Land. Der Eindruck, nicht dazuzugehören, drängte sich ihm früh auf. Er idealisierte als einfacher Kaufmannssohn die viktorianische Gesellschaft, wollte sein Leben lang ihrer ersten Schicht angehören. Dem kam er erst 1899 mit dem Erfolg seiner Enigma Variations und seinen ab 1901 komponierten Märschen Pomp and Circumstance nahe. Doch nach dem Ersten Weltkrieg lösten sich die viktorianischen Ideale auf und boten dem ernüchterten Elgar keine Inspiration mehr. Seine Ängste, nicht dazuzugehören, verstärkten sich.
Das 1918 bis 1919 komponierte Cellokonzert entstand in dieser Phase. Es sollte sein letztes großes Werk bleiben, obwohl Elgar erst 1934 starb. Die Melancholie dominiert. Doch sie erklingt in einer Schönheit, aus der ein tiefer Idealismus spricht und die um ihren Wert weiß. Dabei wird im ersten Satz deutlich, wie sensibel Elgar auf seine Zeit und sein Umfeld reagierte. Das Cello leitet mit herrschaftlichen Akkorden ein, doch ihm antwortet eine leise Klarinettenmelodie im Pianissimo. Das war’s mit der Kraft des Cellos: Es steigt allmählich in die Höhe und verklingt. Im zweiten Satz schmiegen sich langsame Legato-Bögen um hektische Sechzehntel-Läufe. Ruhe und Zartheit treffen auf manierierte Nervosität. Im dritten Satz werden die eben verklungenen Widersprüche in zeitloser Mediation aufgelöst. Das Finale zieht daraus Kraft. Das Cello versucht, sich in den Tutti-Strom zu integrieren, was nur scheinbar gelingt. Erst das Schlusstutti erklingt mit Überzeugung und dem Wissen, dass alle zusammenhalten müssen. Die Uraufführung am 27. Oktober 1919 in der Londoner Queen’s Hall geriet zur Farce, da das Konzert zu wenig geprobt wurde. Erst Jacqueline du Prés Einspielung von 1965 verlieh ihm wieder Ansehen, indem sie erkannte, was das Konzert auszeichnet: die idealistische Schönheit in einer tiefen Melancholie.
Torben Selk
JOSEPH HAYDN
Sinfonie Nr. 103 («Mit dem Paukenwirbel») Es-Dur Hob. I:103
Dauer: ca. 30 Minuten
Entstehung: 1795
Joseph Haydn liebt Überraschungen. Unermüdlich sucht er nach frischen Ausdrucksformen, nach dem Unvorhersehbaren. Dabei sind ihm die Residenzen des Fürsten von Esterházy, an denen er bis 1790 als Leiter der Hofkapelle wirkt, goldener Käfig und fruchtbares Klanglabor in einem. Mehr als die Hälfte seiner insgesamt 107 Sinfonien entwickelt Haydn für und mit seiner dortigen Hofkapelle. Hier kann er «Versuche machen, beobachten, was den Eindruck hervorbringt und was ihn schwächt, also verbessern, zusetzen, wegschneiden, wagen. Ich war von der Welt abgesondert. Und so musste ich original werden.» Doch so selbstbewusst Haydn die Abgeschiedenheit zu schätzen weiß – er sehnt sich nach Freiheit, um der «Einöde» zu entkommen. Denn nahezu 30 Jahre
– fast bis zu seinem 60. Lebensjahr – liegt der Fokus seines Wirkens weitab der großen Welt. Bis 1790 der Fürst stirbt. Neben einem Haufen Schulden hinterlässt dieser einen völlig unmusikalischen Sohn, der die Hofkapelle auflöst, und Haydn in den Ruhestand schickt. Überstürzt zieht Haydn nach Wien. Der Duft der Großstadt lockt. Haydns Musik ist europaweit längst bekannt.
Geografische Grenzen hat er selbst allerdings selten verlassen.
Da tritt Johann Peter Salomon in sein Leben, gebürtiger Bonner und Nachbar der Beethovens, jetzt Konzertveranstalter in London. Er möchte Haydn für eine Tournee nach England verpflichten für unglaubliche 5.000 Gulden (im Schnitt liegt ein Monatsgehalt bei 10 Gulden). Haydns Freund Mozart ist skeptisch. Haydn habe «keine Erziehung für die große Welt». Dieser kontert: «Meine Sprache versteht man auf der ganzen Welt.» Zurecht. Wie ein Popstar wird er empfangen: «Ich wurde in allen Zeitungen herumgetragen. Jedermann war begierig, mich kennenzulernen.»
Eine italienische Oper und sechs Sinfonien sind bei Haydn bestellt, dem «Shakespeare der Musik». Ein Ritterschlag. Sein erster Londoner Aufenthalt von 1791 bis Sommer 1792 wird mit einem zweiten von 1794 bis Sommer 1795 fortgesetzt. Dann entstehen erneut sechs Sinfonien, mit denen Haydn seinen Beitrag zur Gattung krönt. Am 2. März 1795 wird die Sinfonie Nr. 103 uraufgeführt. Ein Erfolg, der bedingt ist durch die Klarheit, die Form, den Witz und die Schlagfertigkeit, die genüsslich gegen Hörerwartungen verstößt. Der für damalige Ohren überraschende Beginn gibt der Sinfonie später den Beinamen «Mit dem Paukenwirbel». Notiert ist mit dem Zusatz «Intrada» (Einzugsmusik für eine hochrangige Person), in der Pauke eine ganztaktige Note mit Fermate, die sowohl als markanter Fortissimo-Auftakt als auch als geheimnisvoll heranrollender Wirbel interpretiert werden kann. Mit dem düsteren Adagio-Teil, der wiederholt in das teils tänzerische Allegro con spirito einbricht, sorgt diese Einleitung für Spannung. Der zweite Satz spielt in Leichtigkeit mit den Gegensätzen von Dur und Moll und lässt vermutlich ungarische bzw. kroatische Volksweisen anklingen. Eine ähnlich folkloristische Reminiszenz an die Heimat birgt mit stampfendem Ländlerton auch der dritte Satz. Der rasante, kunstvoll aus nur einem Thema gewebte Finalsatz beginnt mit einem markanten Hornsignal und erfüllt die hohen Ansprüche eines Rondos ebenso wie die eines Sonatensatzes: ein Allegro eben «con spirito» – wahrhaft geistreich.
Markus Tatzig
Marc Niemann
Marc Niemann ist seit 2014 Generalmusikdirektor des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven. Seitdem hat er das Angebot systematisch ausgebaut und durch innovative Konzert-formate neue Publikumsschichten erschlossen, was 2017 zur Auf-nahme des Bremerhavener Klangkörpers in das Förderprogramm «Exzellente Orchesterlandschaft Deutschland» der Bundesregierung führte. 2018 wurde Niemann von der Zeitschrift Opernwelt als «Dirigent des Jahres» nominiert. Seine Diskografie umfasst, neben der von der Presse hochgelobten zyklischen Einspielung aller Beethoven-Sinfonien, zeitgenössische Werke und die Einspielung der 3. und 6. Sinfonie Emilie Mayers, die 2022 für den internationalen Kritikerpreis «ICMA-Award» nominiert war. Jüngst wurde Niemann für den «OPUS Klassik» als «Dirigent des Jahres» und die Mayer-CD als «Sinfonische Einspielung des Jahres» nominiert. Er steht als Gastdirigent am Pult zahlreicher Orchester und Festivals im In- und Ausland, war 2022 direttore musicale des Cantiere Internazionale d’Arte di Montepulciano und engagiert sich auch kulturpolitisch als Vorsitzender des Landesmusikrates Bremen.
Alban Gerhardt
Seit über dreißig Jahren begeistert Alban Gerhardt weltweit das Publikum mit seiner intensiven Musikalität, Bühnenpräsenz und künstlerischen Neugier. Bekannt für frische Interpretationen bekannter Werke und die Erkundung neuen Repertoires, sticht er unter seinen Kollegen hervor. Sein umfangreiches Repertoire umfasst alle Kernkonzerte, er ist aber auch ein gefragter Solist für zeitgenössische Komponisten. Zu seinen Orchesterpartnern zählen das Royal Concertgebouw Orchestra, die britischen und deutschen Rundfunkorchester, Berliner Philharmoniker, Tonhalle-Orchester Zürich, Orchestre National de France, Orquesta Nacional de España, The Cleveland Orchestra sowie die Symphonieorchester von Philadelphia, Boston und Chicago, unter Dirigenten wie Dohnányi, Masur, Mäkelä, Thielemann, Young, Mälkki, Jurowski und Nelsons. Als Kammermusiker spielt er regelmäßig mit Pianist Steven Osborne und dem Alliage Quintett. Er spielt ein Matteo Goffriller-Cello von 1710.
Impressum
HERAUSGEBER Philharmonisches Orchester Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 7
GENERALMUSIKDIREKTOR Marc Niemann
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Markus Tatzig, Torben Selk
QUELLEN
Dies, Albert Christoph. Biografische Nachrichten von Joseph Haydn. Wien 1810 / Kassel 1964. // Finscher, Ludwig. Joseph Haydn und seine Zeit. Laaber 2002. // Irmen, Hans-Josef. Josef Haydn. Wien, Köln 2007. // Monk, Ray: Elgar studies. Aldershot 1990. // Rieger, Eva: Ein stürmischer Winter. Erinnerungen einer streitbaren englischen Komponistin. Kassel 1988. // Saremba, Meinhard: Elgar, Britten & Co. Eine Geschichte der britischen Musik in zwölf Portraits. Zürich 1994.
AUFFÜHRUNGSRECHTE
The Wreckers (Die Strandräuber): On the Cliffs of Cornwall: Reprint – Novello // Konzert für Violoncello und Orchester e-Moll op. 85: Bärenreiter, Kassel // Sinfonie Nr.103 («Mit dem Paukenwirbel») Es-Dur Hob. I:103: Bärenreiter, Kassel («Mit dem Paukenwirbel») Es-Dur Hob. I:103: Bärenreiter, Kassel