Programm
Dirigent: Marc Niemann
Klavier: Davide Cabassi
Philharmonisches Orchester Bremerhaven
LILI BOULANGER (1893–1918)
D’un soir triste
MAURICE RAVEL (1875–1937)
Klavierkonzert G-Dur
Allegramente
Adagio assai
Presto
GEORGES BIZET (1838–1875)
«L’Arlésienne» – Suite Nr. 1
Prélude. Allegro deciso
Minuetto. Allegro giocoso
Adagietto. Adagio
Carillon. Allegro moderato
MAURICE RAVEL
Boléro
Dauer: ca. 1 Stunde, 30 Minuten // eine Pause nach ca. 35 Minuten
LILI BOULANGER
D’un soir triste
Dauer: ca. 10 Minuten
Entstehung: 1917–1918
Eine komponierende Frau? Unmöglich! So der Ausruf bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Doch vor Lili Boulangers Hochbegabung verstummt mancher Chauvinismus. Schon früh entwickelt sie einen unverkennbaren intimen Stil. 1912 beginnt sie ein Studium am Pariser Conservatoire, das sie für Krankenhausaufenthalte allerdings unterbrechen muss. Trotzdem entschließt sie sich nach einem Jahr, am renommierten Grand Prix de Rome teilzunehmen, den schon Hector Berlioz, Georges Bizet oder Claude Debussy gewonnen hatten. Vor Frauen wird hier aber noch die Nase gerümpft. Lili ist erst die dritte Teilnehmerin. Sie komponiert die geforderte Oper Faust et Hélène – und gewinnt. Ein Journalist berichtet über ihren Auftritt am 5. Juli 1913: «Die Zuhörer spürten etwas von ihrer Überlegenheit. Auf der einen Seite die fuchtelnden Kameraden mit dramatischen Gesichtszügen, in offensichtlicher Überzeugung, dass ihre Zeit gekommen war. Ganz anders Lili Boulanger. Sie dirigierte während der gesamten Aufführung ruhig, klar, bescheiden, ließ die Augen auf die Partitur gesenkt – und das Ergebnis war bemerkenswert. Sie ließ die Männer kindisch erscheinen.» Über Nacht wird sie zur Berühmtheit. Claude Debussy schreibt Lobeshymnen, in New York und Paris bestimmt sie die Schlagzeilen, und Ricordi bietet ihr einen Vertrag mit jährlichem Einkommen an. Man könnte meinen, ihre Zeit sei gekommen.
Doch gleich nach dem Rompreis meldet sich wieder ihr größter Gegner: ihr Körper. Masern, eine Magen-Darmerkrankung und eine schwere Lungenentzündung kommen alle auf einmal auf. Ihre Kräfte schwinden. 1917 komponiert sie schon im Sterbebett D’un soir triste. Das Werk enthält alles, was ihre Kunst zu bieten hat: Kreisende Melodien über Klangflächen erinnern an Debussys Impressionismus und den Ausdruck von Frédéric Chopin und Gabriel Fauré. Apokalyptische Steigerungen wiederum an die intime Preisgabe von Gustav Mahler. Wie in dessen letzten Sinfonien schwingt auch in D’un soir triste eine Todesahnung mit. Am 15. März 1918 stirbt Lili mit nur 24 Jahren. Der frühe Erfolg als Frau und der frühe Tod: Ihr Dasein wird zum Mysterium.
MAURICE RAVEL
Klavierkonzert G-Dur und Boléro
Dauer: ca. 20 und 15 Minuten
Entstehung: 1929–1931 und 1928
Maurice Ravel ist ein schräger Zeitgenosse. Er gibt sich gerne ironisch, distanziert, elegant und dandyhaft, ist klein, schmächtig, aber mit großem Kopf – die Dichterin Colette erinnert er an ein Eichhörnchen. Bis heute ist kein Verhältnis zu einer Frau oder einem Mann bekannt. Seine Residenz, 50 km von Paris entfernt, ist vollgestopft mit asiatischen Vasen, Spielzeugdosen, Automaten, Muscheln und japanischen Blumen. Überhaupt bleibt seine Herkunft doppeldeutig: Im französischen Baskenland Ciboure geboren, aber früh nach Paris gezogen, fühlt er sich ein Leben lang als Baske und Pariser gleichermaßen. Und so treibt er auch mit dem Publikum sein Spiel: Er packt es, er berührt es – aber man kann sich nie sicher sein, ob er es gerade ernst meint.
Das Klavierkonzert G-Dur komponiert er gemeinsam mit seinem Klavierkonzert für die linke Hand. Und ist, typisch Ravel, hochvirtuos mit Einflüssen aus verschiedenen Stilen. Eigentlich will er das Werk bei der Uraufführung am 14. Januar 1932 selbst spielen. Doch seine Hände sind zu schwach. Also dirigiert er. Ein Peitschenschlag – und schon geht’s los: Von den fünf Themen lehnen sich alle an baskische oder spanische Volksmelodien oder Jazz an. Der zweite Satz zeigt Ravel von einer ungewohnten Seite: nämlich innerlich. «Dieser fließende Ausdruck! Er brachte mich beinahe ins Grab», sagt er. Man könnte hier Ironie wittern. Denn Ravel kehrt im dritten Satz wieder unbekümmert zu seiner früheren Belebtheit zurück. Manche Klänge erinnern an Zirkus und Eisenbahnpfiffe und das Finale an Prokofjew und Gershwin. Ein Mix, so bunt wie sein Haus.
Was ist eigentlich das Meisterwerk von Ravel? «Der Boléro», sagt er klar. «Leider ist er frei von Musik». Tatsächlich ist das Werk selbst für Ravels Verhältnisse sehr eigen. 169-mal schlägt das Schlagzeug denselben Rhythmus. Über diesem erklingen zwei ähnliche Themen spanisch-arabischer Herkunft. Jedes Mal exakt dieselben. Mehr passiert nicht. Das Besondere: Immer mehr Instrumentengruppen treten hinzu. Wie ein riesiges Crescendo. So erklingt das Werk bei der Uraufführung am 22. November 1928 auch als Ballettmusik. Dort räkelt sich Ida Rubinstein um junge Tänzer in einer schwach beleuchteten Bar. Schnell wird das Werk als Sexfantasie abgestempelt. Mittlerweile ist es aber aus unserer Kultur nicht mehr wegzudenken. Bei den Olympischen Winterspielen 1984 in Sarajevo gewinnen die Briten Jayne Torvill und Christopher Dean Gold im Paartanz auf den Boléro. Regisseur George Lucas wollte den Boléro ursprünglich als Filmmusik für Star Wars verwenden, ehe er John Williams beauftragt. Man kann also durchaus sagen: Es ist nicht nur ein Meisterwerk Ravels, sondern der klassischen Musik überhaupt.
GEORGES BIZET
«L’Arlésienne» – Suite Nr. 1
Dauer: ca. 15 Minuten
Entstehung: 1872
Georges Bizets Melodien haben Ohrwurmcharakter. Sie bescheren Bizet 1857 den Grand Prix de Rome und tragen dazu bei, dass er im Théâtre Lyrique, eines der größten Opernhäuser Frankreichs, 1863 seine Oper Les pêcheurs de perles und 1867 La jolie fille de Perth uraufführen kann. Während dieser Arbeiten lernt Bizet auch Léon Carvalho kennen, den Intendanten des Théâtre du Vaudeville. 1872 beauftragt er Bizet mit einer Bühnenmusik zu L’Arlésienne, einem Drama von Alphonse Daudet. Daudet ließ sich dafür von einer wahren Begebenheit inspirieren: Am Fluss Rhône im Süden von Arles, also dem Südwesten der Provence, verliebt sich Fréderi, ein junger Bauer, in ein Mädchen. Kurz vor der Hochzeit wird sie ihm untreu. Und das, obwohl Fréderi die Liebe eines anderen Mädchens für sie ausgeschlagen hat. Fréderi begeht Suizid. Am 30. September 1872 findet die Premiere statt. Die Vorzeichen stehen nicht günstig: Eigentlich ist an dem Tag Robert Halts Madame Frainex angesetzt. Doch die Zensur verbietet auf den letzten Metern die Aufführung. Stattdessen soll L’Arlésienne gespielt werden. Entsprechend säuerlich reagiert das Publikum. Die Darstellenden geben alles, Bizet spielt auf der Seitenbühne sogar selbst auf dem Harmonium mit. Doch es wird eine Farce. Daudet schreibt später: «Ich ging entmutigt wieder raus, immer noch mit dem dummen Gelächter im Ohr, das zu den emotionalen Stellen erschallte.» Die von den Zensoren abgesegnete provenzalische Provinz hat beim Pariser Boulevard offenbar keine Chance. Die Musik aber wird gelobt. Bizet wird mehrfach nahegelegt, sie zum eigenen Stück umzuarbeiten, damit sie mit dem Drama nicht wieder verschwindet. So entsteht seine viersätzige Suite. Mit provenzalischen Melodien, einer kleinen Trommel, einem Altsaxophon, das 1840 gerade erst erfunden wurde, sowie seiner gewagten Harmonik beschwört er Klang und Sehnsucht der Provence. Die Suite wird am 10. November 1872 von den Concerts populaires im Pariser Cirque d’Hiver uraufgeführt und zu einem seiner beliebtesten Werke. So hat sich das Engagement für Bizet doch noch gelohnt.
Torben Selk
Lili Boulanger«Mögen alle Frauen, alle Männer,
alle Menschen glücklich sein
und sich in Freiheit bewegen,
jeder nach seiner Art.»
Marc Niemann
Marc Niemann ist seit 2014 Generalmusikdirektor des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven. Seitdem hat er das Angebot systematisch ausgebaut und durch innovative Konzertformate neue Publikumsschichten erschlossen, was 2017 zur Aufnahme des Bremerhavener Klangkörpers in das Förderprogramm
Exzellente Orchesterlandschaft Deutschland der Bundesregierung führte. 2018 wurde Niemann von der Zeitschrift Opernwelt als Dirigent des Jahres nominiert. Seine Diskografie umfasst, neben der von der Presse hochgelobten zyklischen Einspielung aller Beethoven-Sinfonien, zeitgenössische Werke und die Einspielung der 3. und 6. Sinfonie Emilie Mayers, die 2022 für den internationalen Kritikerpreis ICMA-Award nominiert war. Jüngst wurde Niemann für den OPUS Klassik als Dirigent des Jahres und die Mayer-CD als Sinfonische Einspielung des Jahres nominiert. Er steht als Gastdirigent am Pult zahlreicher Orchester und Festivals im In- und Ausland, war 2022 direttore musicale des Cantiere Internazionale d’Arte di Montepulciano und engagiert sich auch kulturpolitisch als Vorsitzender des Landesmusikrates Bremen. Seit diesem Jahr ist Marc Niemann Intendant und Geschäftsführer des Sendesaals Bremen.
Davide Cabassi
Davide Cabassi, einer der international anerkanntesten italienischen Pianisten, debütierte mit 13 Jahren mit dem Sinfonieorchester der RAI in Mailand unter Vladimir Delman. Als Finalist des renommierten Van Cliburn Wettbewerbs trat er mit Orchestern wie den Münchner Philharmonikern, der Filarmonica della Scala und dem Fort Worth Symphony Orchestra auf, in Sälen wie der Carnegie Hall, der Rachmaninoff Hall in Moskau, dem Mozarteum Salzburg, dem Louvre und dem National Centre for the Performing Arts in Peking. Als leidenschaftlicher Kammermusiker und Interpret zeitgenössischer Musik war er an zahlreichen Uraufführungen beteiligt. Seine Diskografie umfasst Aufnahmen bei Sony BMG, Decca, Col legno, Concerto Classics und Hungaroton. Als erster Italiener an der International Piano Foundation in Cadenabbia aufgenommen, lehrt er seit 2003 an italienischen Konservatorien und initiiert Konzertreihen und soziale Projekte, darunter die Primavera di Baggio mit seiner Frau Tatiana Larionova.
Impressum
HERAUSGEBER Philharmonisches Orchester Bremerhaven
SPIELZEIT 2025/2026, Nr. 6
GENERALMUSIKDIREKTOR Marc Niemann
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Markus Tatzig, Torben Selk
SATZ Nathalie Langmaack
QUELLEN
Bruhn, Siglind: Ravels Orchester- und Kammermusik. Waldkirch 2022.
Potter, Caroline: Nadia and Lili Boulanger. London 2016.
Stenger, Alfred: Gedanken zu Ravel. Wilhelmshaven 1948.
Dean, Winton: Georges Bizet. Leben und Werk. Stuttgart 1988.
AUFFÜHRUNGSRECHTE
D’un soir triste: IMSLP, public domain
Klavierkonzert G-Dur: Bärenreiter-Verlag, Kassel
«L’Arlésienne» – Suite Nr. 1: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
Boléro: B-Note, Hagen im Bremischen
