Programm
Dirigent: Marc Niemann
Sopran: Susanne Serfling
Philharmonisches Orchester Bremerhaven
GIORGIO BATTISTELLI (* 1953)
Sciliar
RICHARD STRAUSS (1864-1949)
Vier letzte Lieder
Frühling
September
Beim Schlafengehen
Im Abendrot
JOHANNA SENFTER (1879-1961)
Sinfonie Nr. 2 d-Moll op. 27
Mäßig rasch
Lebhaft
Adagio non troppo
Ziemlich lebhaft
Dauer:
ca. 1 Stunde, 30 Minuten // eine Pause nach ca. 40 Minuten
Das Konzert wird von Deutschlandfunk Kultur aufgezeichnet und am 24. Januar 2025 um 20:03 Uhr ausgestrahlt.
GIORGIO BATTISTELLI
Sciliar
Dauer: ca. 11 Minuten
Entstehung: 2012
Ähnlich mythisch und malerisch wie das Abendrot erstreckt sich zuweilen auch der Sciliar im Horizont, auf Deutsch «Schlern». Der Bremerhavener composer in residence Giorgio Battistelli hat ihm ein eigenes Werk gewidmet. Der Schlern liegt in den Südtiroler Dolomiten, ist dort aber nicht der höchste Berg. Vielmehr ließ seine besondere Form ihn zum Wahrzeichen von Italiens nördlichster Provinz werden. Seine hohe, graue Steilwand ragt wie eine uneinnehmbare Burg aus den grünen Weiden und Wäldern. Im Volksmund wird er auch «Monte del Destino» genannt, «Berg des Schicksals». Für Battistelli, der sich nach einer Winterwanderung zu dem Werk inspirieren ließ, beschwört dieser Name «alte Legenden, Gedanken, Träume. Es scheint, als hätten in prähistorischen Zeiten Menschen seinen Gipfel bestiegen, um für Gottheiten Zeremonien durchzuführen.» Die Erhabenheit des Bergs lässt den Menschen sich klein, vielleicht auch bloßgestellt fühlen. Zumindest veranlasste sie Battistelli, eigene Empfindungen einfließen zu lassen: «In Sciliar projiziere ich tiefe Gefühle. Gefühle, die wie Sternschnuppen in einer Julinacht vorbeiziehen, wie ein Schrei des Himmels, der ihn nicht zurückhalten kann.» Das Orchester malt diese «Schreie des Himmels» mit Tonleitern nach, die im Forte aus dem Holz in die Streicher fallen. Epische Steigerungen aus dem Piano ins Tutti-Fortissimo ahmen wiederum die Erhabenheit des Bergs nach und erinnern auch wegen tonaler Anspielungen an die Alpensinfonie von Richard Strauss. Dazwischen gibt es immer wieder Momente der Stille, wenn etwa Klangflächen im Piano die Zeit anhalten. Für Battistelli eine «jahrtausendalte Stille», «eine Sehnsucht, die nicht verblassen kann». In dieser Verbindung von Ausdruck und Mythos machen sich seine romantischen Einflüsse um Strauss oder Richard Wagner, aber auch seiner modernen Mentoren um Hans Werner Henze oder Luciano Berio bemerkbar. So schafft es Battistelli, die Natur wie im 19. Jahrhundert wieder erhaben klingen zu lassen. Und das in einer Zeit, in der wir glauben, sie eigentlich schon vollständig zu beherrschen. Dass dem nicht so ist, merken wir nicht nur an der Klimakrise. Sondern auch in Battistellis Musik.
«Wir sind durch Not und Freude gegangen Hand in Hand; vom Wandern ruhen wir beide nun überm stillen Land.»Joseph von Eichendorff, Im Abendrot, 1. Strophe
RICHARD STRAUSS
Vier letzte Lieder
Dauer: ca. 28 Minuten
Entstehung: 1948
Die letzten zwei Jahrzehnte von Richard Strauss’ Leben waren turbulent. Er kooperierte zwar mit dem Naziregime, um sein Werk und seine Familie zu schützen. Aber seine Weigerung, die Zusammenarbeit mit jüdischen Schriftstellern wie Stefan Zweig einzustellen, provozierte. Strauss wurde zunehmend isoliert. Er zog sich zurück. Nach dem Krieg hatte er bereits aufgehört, das Weltgeschehen verstehen zu wollen. Er siedelte vorübergehend in die Schweiz über, wo er in einem Hotel Hermann Hesse kennenlernte. Ein Schriftsteller, der sich intensiv mit Spiritualität und psychologischen Urbildern beschäftigte. Also fundamental verschieden von Strauss’ «rauschhaftem Stil», wie Hesse ihn bezeichnete. Der isolierte und sein Lebensende wohl schon ahnende Strauss fand aber Gefallen an Hesses Naturlyrik. Er wählte drei Gedichte zur Orchestervertonung aus. Ein weiteres Orchesterlied komponierte er über ein Gedicht von Joseph von Eichendorff. Die genaue Anordnung der Lieder stammt aber nicht von Strauss, sondern von Ernst Roth, der den Zyklus als Verlagsleiter von Boosey & Hawkes 1950 posthum publizierte. Die Reihenfolge wurde seitdem beibehalten. Auch, weil sie den Lebenszyklus allgemein symbolisiert. Das erste Lied über Hesses Frühling steht mit seiner Lebensfreude für die Jugend. September blickt auf die vergängliche Schönheit des Sommers und jene des Menschen zurück. Beim Schlafengehen werden die Augen geschlossen, und auch das Leben selbst wird müde und neigt sich dem Ende entgegen. Im Abendrot geht ein Paar schließlich friedlich ins Jenseits über. Dabei stellt der Tod nie einen Schrecken dar. Strauss verklärt ihn, indem er Im Abendrot aus seiner sinfonischen Dichtung Tod und Verklärung zitiert, die er 60 Jahre zuvor komponierte. Der Tod bleibt dank verschiedener Naturbilder auch natürlich. Im Herbst fallen Triolen wie Blätter nieder, in Frühling und Im Abendrot malen Flötentriller Vogelgesänge nach. Zunächst als Bejahung des Lebens, dann als versöhnliche Überleitung ins Jenseits. Wie ein Mann, der mit seinem Leben im Reinen ist. Und auch mit dem nahenden Ende.
«Oh weiter stiller Friede! so tief im Abendrot. Wie sind wir wandermüde – Ist dies etwa der Tod?»Joseph von Eichendorff, Im Abendrot, 4. Strophe
JOHANNA SENFTER
Sinfonie Nr. 2 d-Moll op. 27
Dauer: ca. 30 Minuten
Entstehung: 1918
«Wäre ich keine Frau, hätte ich’s leichter», sagte Johanna Senfter, eine der produktivsten Komponist:innen des letzten Jahrhunderts. Sie wusste, wovon sie sprach. Zu ihrem Œuvre zählen 134 Werke mit Opuszahl und 27 ohne. Außer der Oper sind alle Gattungen vertreten, darunter neun Sinfonien. Als Frau musste sie aber gegen Vorurteile ankämpfen. Große Kunst könnten nur Männer komponieren, hieß es bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Jede Aufführung musste erkämpft werden. In ihren ersten Jahren hatte Senfter aber vergleichsweise Glück. Ihre musikbegeisterten Eltern förderten ihr Talent. Mit 16 Jahren «durfte» sie von 1895 bis 1903 u. a. Komposition und Klavier am Frankfurter Konservatorium studieren. Nach einigen Stunden Privatunterricht setzte sich schließlich kein Geringerer als Max Reger bei ihren Eltern dafür ein, sie ab 1908 in seine Klasse am Leipziger Konservatorium aufzunehmen: «Es wäre eine Sünde, die Begabung nicht voll und ganz zur Entwicklung zu bringen» schrieb er in einem Brief. Auch während Senfters Studienzeit blieb Regers Begeisterung ungebrochen. Er bezeichnete sie als seine «beste Schülerin». Senfter lernte unter Reger u. a. dessen hochkomplexe Mixtur aus Kontrapunkt, Chromatik und Harmonik. Der Stil greift auf die Barockzeit, Brahms und Liszt zurück und prägte von nun an ihr Werk. Bei Reger galt der Stil oft als streng mathematisch. Damit grenzte er sich gegen die psychologischen Experimente seiner Zeit ab, wie sie u. a. Arnold Schönberg und Paul Hindemith unterschiedlich vertraten. Diese sucht man ebenso vergebens in Senfters Sinfonie Nr. 2. Ausdruck und Wärme lässt sie allerdings zu. So wird in den ersten beiden Sätzen schleichend eine Pendelfigur eingeführt, die an Sehnsucht erinnert. Im dritten Satz entfaltet sie sich zu einer unerwarteten Bedrohlichkeit, die im vierten Satz wiederum systematisch überwunden wird. Ein synkopisches Thema rennt sich immer wieder fest und nimmt neuen Anlauf. Schließlich wird dessen d-Moll in ein strahlendes D-Dur überführt. Ernst und Bedrohlichkeit wandeln sich in abgeklärte Ironie. Vielleicht das beste Mittel, um mit den Hürden von Senfters Zeit umzugehen.
Torben Selk
Marc Niemann
Marc Niemann ist seit 2014 Generalmusikdirektor des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven. Seitdem hat er das Angebot systematisch ausgebaut und durch innovative Konzert-formate neue Publikumsschichten erschlossen, was 2017 zur Auf-nahme des Bremerhavener Klangkörpers in das Förderprogramm «Exzellente Orchesterlandschaft Deutschland» der Bundesregierung führte. 2018 wurde Niemann von der Zeitschrift Opernwelt als «Dirigent des Jahres» nominiert. Seine Diskografie umfasst, neben der von der Presse hochgelobten zyklischen Einspielung aller Beethoven-Sinfonien, zeitgenössische Werke und die Einspielung der 3. und 6. Sinfonie Emilie Mayers, die 2022 für den internationalen Kritikerpreis «ICMA-Award» nominiert war. Jüngst wurde Niemann für den «OPUS Klassik» als «Dirigent des Jahres» und die Mayer-CD als «Sinfonische Einspielung des Jahres» nominiert. Er steht als Gastdirigent am Pult zahlreicher Orchester und Festivals im In- und Ausland, war 2022 direttore musicale des Cantiere Internazionale d’Arte di Montepulciano und engagiert sich auch kulturpolitisch als Vorsitzender des Landesmusikrates Bremen. Seit diesem Jahr ist Marc Niemann Intendant und Geschäftsführer des Sendesaals Bremen.
Susanne Serfling
Die Sopranistin debütierte an der Staatsoper Unter den Linden, der Komischen Oper Berlin und dem Konzerthaus Berlin. Nach Festengagements am Theater Erfurt und am Staatstheater Darmstadt ist sie seit 2014 freischaffend. Sie gastierte an den Staatstheatern Wiesbaden, Cottbus, Oldenburg und Braunschweig, an den Opern Bonn, Wuppertal, Kiel, an den Theatern Magdeburg, Ulm, Hagen, Heidelberg, Erfurt, Teatr Wielki Warschau, Koblenz, Aachen, Hof, Detmold und Gelsenkirchen. Ihr aktuelles Repertoire beinhaltet Partien wie Agathe in Der Freischütz, Blanche in Die Gespräche der Karmeliterinnen, Chrysothemis in Elektra, Leonore in Fidelio, Marie/Marietta in Die tote Stadt, Senta in Der fliegende Holländer, Ariadne in Ariadne auf Naxos, Leonore in Fidelio, Salome in der gleichnamigen Oper sowie Medea und Minnie in La fanciulla del West. Zuletzt war sie in Oldenburg sowie am Opernhaus Zürich als Ortlinde in Die Walküre und am Theater Lübeck als Cio-Cio San zu hören. Ebenso verfolgt Serfling eine rege Konzerttätigkeit mit Werken von Weill, Mahler, Strauss, Puccini und Verdi und folgte Einladungen der Tonhalle Zürich, zum Crossound Festival Alaska, in die USA und nach Mexiko.
Impressum
HERAUSGEBER Philharmonisches Orchester Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 14
GENERALMUSIKDIREKTOR Marc Niemann
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Markus Tatzig, Torben Selk
QUELLEN
Bibiella, Ralf: Johanna Senfter. Komponistin und Meisterschülerin von Max Reger. In: Ars
Organi (2). 2023.
Gülke, Peter: So tief im Abendrot. Zum letzten der «Vier letzten Lieder» von Richard Strauss.
In: Archiv für Musikwissenschaft (2). 2013.
Lütteken, Laurenz: Richard Strauss. Musik der Moderne. Stuttgart 2014.
AUFFÜHRUNGSRECHTE
Sciliar: CASA RICORDI – Universal Music Publishing RICORDI S.r. l.
Vier letzte Lieder: Boosey & Hawkes, London / Berlin
Sinfonie Nr. 2 d-Moll op. 27: Schott-Verlag, Mainz