Programm
Dirigent: Gabriel Venzago
Viola da Gamba: Hille Perl
Philharmonisches Orchester Bremerhaven
JOHANN SEBASTIAN BACH (1685-1750)
Brandenburgisches Konzert Nr. 1 F-Dur BWV 1046
[ohne Satzbezeichnung]
Adagio
Allegro
Menuett – Trio I – Menuett – Polonaise – Menuett – Trio II – Menuett
JOHANN GOTTLIEB GRAUN (1703-1771)
Konzert für Viola da Gamba, Streicher und Basso continuo G-Dur
Allegro
Adagio ma non tanto
Allegro
ROBERT SCHUMANN (1810-1856)
Sinfonie Nr. 3 Es-Dur «Rheinische» op. 97
Lebhaft
Scherzo. Sehr mäßig
Nicht schnell
Feierlich
Lebhaft
Dauer: ca. 1 Stunde, 40 Minuten // eine Pause nach ca. 40 Minuten
JOHANN SEBASTIAN BACH
Brandenburgisches Konzert Nr. 1 F-Dur BWV 1046
Dauer: ca. 20 Minuten
Entstehung: 1721
Im Herbst 1717 kommt Johann Sebastian Bach ins Gefängnis. Wegen «Halsstarrigkeit» wird er verurteilt, da er sich weigert, seinem Weimarer Brotgeber weiterhin zu dienen. Nach Jahren hervorragender Arbeit wird Georg Philipp Telemann der Posten des Kapellmeisters angeboten – und nicht Bach. Seine Gesprächsgesuche werden ignoriert, man gewährt ihm keine Audienz und streicht die Notenpapierlieferungen. Für Bach ist das Maß voll. Ein neuer Arbeitgeber jedoch erkennt seine Begabung: Fürst Leopold von Köthen will Bach die alleinige Verantwortung für die Hofmusik übertragen. Großartige Aussichten.
Diese bieten Bach nicht nur sozialen Aufstieg, sondern auch eine ganz neue Ausrichtung seiner musikalischen Arbeit. Orgelspiel und Kirchenkantaten treten in den Hintergrund, denn Leopolds Leidenschaft gilt der anspruchsvollen Instrumentalmusik. Nach der Auflösung der Berliner Hofkapelle hatte Leopold bereits exzellente Musiker:innen nach Köthen engagiert und Bach ein Gehalt gezahlt, um sich dessen Dienste zu sichern. Leopold wird nicht enttäuscht. Mit seinen Brandenburgischen Konzerten spornt Bach die Hofkapelle zu Höchstleistungen an. Diese Konzerte, die als Inbegriff barocker Konzertkunst gelten, erhalten ihren Namen von Philipp Spitta in dessen Bach-Biografie (1873). Bach widmet sie dem Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg, den er 1719 auf einer Dienstreise nach Berlin traf, als er ein neues Cembalo für den Köthener Hof abholte. Der Markgraf war von Bachs Spiel so begeistert, dass er ihn um neue Werke bat. 1721 kommt Bach diesem Wunsch mit der Partitur der Six Concerts Avec Plusieurs Instruments nach, die wir heute als Brandenburgische Konzerte kennen.
Dass das Konzert Nr. 1 BWV 1046 die Sammlung eröffnet, ist kein Zufall. Der erste Satz, der zuvor als Einleitung der Jagd-Kantate BWV208 beim Geburtstag des Herzogs Christian zu Sachsen-Weissenfels erklang, bringt mit großen Hornfanfaren ein markantes Jagdkolorit und zugleich eine Huldigung des Köthener Fürsten. Der zweite Satz entfaltet sich als zarter Klagegesang der Oboe, der sich im Dialog mit dem Violino piccolo (einer um eine kleine Terz höher gestimmten Geige) fortsetzt und schließlich in einem Kanon vereint. In Verbindung mit der Jagd-Kantate lässt sich dieser Satz als Liebesduett zwischen der Jagdgöttin Diana und ihrem Geliebten Endymion deuten. Philipp Spitta bezeichnet dieses Adagio als «das wahre Herz des Ganzen». Im dritten Satz kehrt mit virtuosen Passagen für Horn und Violino piccolo erneut die Jagdszenerie des ersten Satzes zurück. Als vierter Satz folgt eine Tanzsuite, deren Gerüst ein elegantes Menuett bildet, das von zwei Trios und einer zentralen Polonaise umrahmt wird – ungewöhnlich, überraschend und virtuos.
Markus Tatzig
JOHANN GOTTLIEB GRAUN
Konzert für Viola da Gamba, Streicher und Basso continuo G-Dur
Wer Jazz hört, ist gebildet. Wer Gangsta-Rap hört, nicht. So sagt es das Klischee. Menschen, die sich einer Gesellschaftsschicht zugehörig fühlen, neigten schon immer dazu, ihre Identität musikalisch untermauern zu wollen. So auch im 18. Jahrhundert. Die heute für das Orchester so wichtige Violine galt zwischen dem 16. und mittleren 18. Jahrhundert als Instrument für Tanzmusik aus dem «niederen Stand». Die Viola da Gamba hingegen als «anständiges» Instrument des Adels. Auf ihr musizieren zu können, war neben Reiten, Fechten und Jagen für «junge Edelleute» manierlich, wie 1528 der Schriftsteller und Diplomat Baldassare Castiglione in Das Buch vom Hofmann lehrte, einem der einflussreichsten Werke der Renaissance. Die Gambe galt wegen ihrer schwierigen Spielbarkeit als edel, aber auch wegen ihrer Fähigkeit, die menschliche Stimme in sowohl hohen als auch tiefen Lagen nuancenreich nachzuahmen. Ihr Klang war jedoch zu schwach und zitternd, um ein fester Bestandteil des Orchesters zu sein. Anpassungen hätten sie zu nahe ans Cello gerückt, von dem sie Ende des 18. Jahrhunderts wegen dessen volleren und kräftigeren Klangs auch verdrängt wurde.
Während der Vorklassik Mitte des Jahrhunderts erfreute sich die Gambe aber noch großer Beliebtheit. So auch bei Johann Gottlieb Graun, älterer Bruder des Opernkomponisten Carl Heinrich. Graun war Konzertmeister von Friedrich dem Großen, in dessen Familie die Gambe beliebt war. Auch deshalb war die Gabe ein Fixstern für Graun, von dem ein Großteil des damaligen Hoforchesterrepertoires stammte. Im Konzert für Viola da Gamba umklammern zwei schnelle, virtuose Sätze einen langsamen. Die Sätze bestehen aus einem Abschnitt, der viermal, bzw. im langsamen Satz zweimal wiederholt und variiert wird. Die Gambe setzt mit der ersten Wiederholung ein. Dabei zeigt Graun durchgehend ein außergewöhnliches Gespür für melodische Zusammenhänge. Sein Ton zeugt von einer Sanftheit, die Impulsivität nicht ausschließt, seine Gutmütigkeit aber nie ablegt. Und damit wunderbar jenem der Gambe entgegenkommt.
Torben Selk
ROBERT SCHUMANN
Sinfonie Nr. 3 Es-Dur «Rheinische» op. 97
Dauer: ca. 35 Minuten
Entstehung: 1850
1850 siedelt Robert Schumann mit seiner Familie von Dresden nach Düsseldorf über, um Ferdinand von Hillers Nachfolge als städtischer Musikdirektor anzutreten. Euphorisch berichtet er: «Ich wüsste kaum eine Stadt, der hiesigen zu vergleichen – von einem so frischen künstlerischen Geist fühlt man sich hier angeweht.» Schumann, der in Dresden mit psychischen Krisen zu kämpfen hatte, findet in der rheinischen Gastfreundschaft neue Energie. Im September desselben Jahres besuchen die Schumanns Köln. Längst hegt Schumann den Plan, den Dom zu besuchen, den er in der Dichterliebe mit Im Rhein, im heiligen Strome huldigte. Dieser Tagesausflug wird die Entstehung der Sinfonie Nr. 3 beeinflussen.
Die Komposition entsteht in wenigen Wochen. Im November 1850 beginnt Schumann mit der Arbeit, Anfang Dezember ist sie vollendet. Die Sinfonie Nr. 3 vereint zwei Kräfte: formalen Konservatismus und eine bemerkenswerte rhythmisch-melodische Erfindungsgabe. Ihre ungewöhnliche fünfsätzige Struktur findet einen Vorläufer in Beethovens Pastorale. Diese Kräfte verschmelzen im Eröffnungssatz zu energetischem Schwung. Das Scherzo, das anfangs Morgen am Rhein heißt, fängt mit einem wiegenden Thema die Atmosphäre der neuen Lebensumgebung ein. Der dritte Satz bietet ein langsames Intermezzo mit Bläsern, die über einer Streicherbegleitung eine lyrische Melodie spielen, das an Schumanns Geschick als Liedschreiber erinnert. Der vierte Satz, ursprünglich mit Im Charakter einer Begleitung zu einer feierlichen Zeremonie überschrieben, entwickelt sich zu einem Höhepunkt. Nachdem Schumann den Titel zur Drucklegung zu Feierlich vereinfacht hatte, gipfelt der Satz in einer massiven, wiederholten Fanfare der Bläser. Mit dem Finale kehrt die Lebendigkeit des Kopfsatzes zurück. Hier betont Schumann den Rhythmus und die Klarheit der Artikulation (ein großer Teil der Musik ist als staccato zu spielen gekennzeichnet) und verleiht der Musik eine treibende Leichtigkeit, die die Sinfonie zu ihrem beschwingten, edlen Ende führt.
Die Uraufführung erfolgt im Februar 1851 unter Schumanns Leitung in Düsseldorf. Das Publikum ist begeistert – die Musik scheint den Geist des Rheinlands widerzuspiegeln, das Gefühl von Heimat. Der Beiname Rheinische stammt jedoch nicht von Schumann, sondern von seinem ersten Biografen, Wilhelm Joseph von Wasielewski. Es ist eine Zeit, in der Schumann sich am Rhein wohlfühlt, ein positives Kapitel seines Lebens. Doch dieses währt nur kurz. Bald kehren seine psychischen Probleme zurück, und der Rhein wird für ihn ein Ort der Verzweiflung, dem Ort seines Lebensendes.
Markus Tatzig
Gabriel Venzago
Gabriel Venzago ist designierter Generalmusikdirektor des Staats-theaters Mainz. Als aktueller Chefdirigent hat er die Bodensee Philharmonie mit seinem Engagement auf ein neues Niveau gebracht. 2023 gründete er die Junge Bodensee Philharmonie. In der aktuellen Spielzeit gastiert er beim Luzerner Sinfonieorchester, beim Staatsorchester Rheinische Philharmonie Koblenz, dem Tiroler Symphonieorchester Innsbruck und dem Philharmonischen Orchester Erfurt. Er arbeitete mit dem Aarhus Symfoniorkester, dem Singapore Symphony Orchestra, den Bochumer Symphonikern, den Brandenburger Symphonikern, dem Staatsorchester Darmstadt, dem Mozarteumorchester Salzburg und der NDR Radiophilharmonie. Bis zum Ende der Spielzeit 2022/2023 war Venzago 1. Kapellmeister am Salzburger Landestheater, wo er Neuproduktionen der Zauberflöte und Carmen, von experimentellen Theaterproduktionen und die Uraufführung der Oper Cinderella von Alma Deutscher leitete. 2021 sprang er bei einer Neuinszenierung von Idomeneo an der Bayerischen Staatsoper ein und erlangte mit der musikalischen Leitung der Oper Zaide. Eine Flucht Aufmerksamkeit.
Hille Perl
Hille Perl fing an, sich im Alter von fünf Jahren auf die Viola da Gamba zu spezialisieren. Für sie ist Musik das vorrangige Medium der zwischenmenschlichen Kommunikation. Präziser, unmissverständlicher und intensiver als Sprachen, von größerer emotionaler Signifikanz als andere Erfahrungen, mit der Ausnahme von Liebe. Musik ist für sie eine Methode, nicht nur die Vergangenheit mit der Zukunft zu verbinden, sondern auch, widersprüchliche Seiten des Menschen zu vereinen. Sie hat an verschiedenen Orten der Erde konzertiert, mit unterschiedlichen Ensembles oder als Solistin und Duopartnerin des Lautenisten und Komponisten Lee Santana. Wenn sie nicht auf Reisen ist, lebt sie in einem norddeutschen Bauernhaus, mit ihrem Mann und einigen Schafen, Gänsen, Hühnern, Katzen und den Hunden Kalle und Jaimie. Seit 2002 ist sie leidenschaftliche Professorin einer Gambenklasse an der Hochschule für Künste in Bremen. Dort lehrt sie ihren Studierenden alles, was sie über Musik, das Gambenspiel und die Kunst weiß, und nicht eifersüchtig zu sein, wenn jemand besser spielt als man selbst.
Impressum
HERAUSGEBER Philharmonisches Orchester Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 16
GENERALMUSIKDIREKTOR Marc Niemann
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Markus Tatzig, Torben Selk
QUELLEN
Demmler, Martin: Robert Schumann. Eine Biografie. Leipzig 2006.
Rampe, Siegbert und Dominik Sackmann: Bachs Orchestermusik. Kassel 2000.
Terne, Claudia: Die Brüder Graun. Drei Musiker im 18. Jahrhundert. Herzberg (Elster) 2020.
AUFFÜHRUNGSRECHTE
Brandenburgisches Konzert Nr. 1 F-Dur BWV 1046: Bärenreiter-Verlag, Kassel
Konzert für Viola da Gamba, Streicher und Bc. G-Dur: Einrichtung Hille Perl, Bremen
Sinfonie Nr. 3 Es-Dur «Rheinische» op. 97: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden