Programm
Dirigent: Marco Comin
Violoncello: Wolfgang Emanuel Schmidt
Philharmonisches Orchester Bremerhaven
IGOR STRAWINSKY (1882-1971)
Le chant du rossignol
Presto – Andantino – Tempo I
Marche chinoise
Chant du rossignol
Jeu du rossignol mécanique
JOSEPH HAYDN (1732-1809)
Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 C-Dur Hob. VIIb:1
Moderato
Adagio
Allegro molto
PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKI (1840-1893)
Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 Pathétique
Adagio – Allegro non troppo
Allegro con grazia
Allegro molto vivace
Finale: Adagio lamentoso
Dauer: ca. 2 Stunden // eine Pause nach ca. 45 Minuten
IGOR STRAWINSKY
Le chant du rossignol
Dauer: ca. 20 Minuten
Entstehung: 1908–1919
Als Igor Strawinsky 1908 mit der Komposition seiner Oper Le rossignol nach Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers Nachtigall begann, suchte er noch nach einem eigenen Stil. 1909 war der erste Satz fertig. In ihm klingt noch Debussys Impressionismus an. Doch die Arbeit wurde unterbrochen: Sergei Djagilew, der berühmteste Ballett-Impresario des 20. Jahrhunderts, bat Strawinsky aus Paris um die Komposition von Der Feuervogel. Das Ballett wurde 1910 mit großem Erfolg uraufgeführt. Weitere Projekte folgten 1911 mit Petruschka und 1913 mit Le sacre du printemps. Die Werke polarisierten, Strawinskys Name ging durch die Decke. Eine solche Sachlichkeit, Härte und Negation des persönlichen Ausdrucks galten als unsittlich. Denn man sucht vergebens nach Wagners Rausch oder Debussys Klangzauber. Stattdessen: Akkordwiederholungen, Rhythmik, durchsichtige Klänge und teils extreme Dissonanzen. Wie eine Maschine überrollte seine Musik das Publikum.
Nach Le sacre du printemps stellte Strawinsky Le rossignol fertig und ließ die Oper 1914 in Paris uraufführen. Doch Strawinskys stilistischer Wandel hatte Folgen: Er komprimierte die Oper zum Konzertstück Le chant du rossignol und strich den ersten impressionistischen Akt komplett, der sonst der Nachtigall und ihrem bezaubernden Gesang im Wald gewidmet war. Das Stück setzt mit Strawinskys neuem Stil im zweiten Akt ein. Dort holt der Kaiser von China die Nachtigall an seinen Hof, wo sie bald von einer mechanischen aus Japan verdrängt wird. Doch sie kehrt nach Jahren zum Kaiser zurück, der mittlerweile im Sterben liegt. Die Nachtigall betört den Tod mit ihrem Gesang – und er verschwindet. Strawinsky selbst wollte nicht mehr betören, wie dem Publikum der Uraufführung 1919 in Genf wohl endgültig deutlich wurde. Und doch zog sein neuer Stil das Publikum in einen hypnotischen Bann, dem man sich auch heute kaum entziehen kann.
Torben Selk
JOSEPH HAYDN
Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 C-Dur Hob. VIIb:1
Dauer: ca. 25 Minuten
Entstehung: 1761–1765
«Ich war von der Welt abgesondert, niemand in meiner Nähe konnte mich irremachen und quälen. Ich musste originell werden», so Joseph Haydn rückblickend über seine Zeit als Kapellmeister beim Fürsten Paul Anton Esterházy von 1761 bis 1790. Die Voraussetzungen am Hof waren perfekt. Esterházy besaß eine eigene Oper, eine Komödie sowie Räume für Kirchen- und Kammermusik. Langeweile kam da nicht auf: Haydn musste Konzerte und Opern dirigieren, proben, Klaviere stimmen, Noten verwalten, sich um Personalprobleme von 16 bis 22 Musikern kümmern, sowie «die Sänger instruieren, damit sie dasjenige, was sie in Wien mit viel Mühe erlernt haben, auf dem Land nicht vergessen», wie es im Vertrag heißt. Und nebenbei musste er auch noch komponieren. Damit Haydn dabei nicht den Kopf verlor, wurde noch die Klausel eingefügt: «Darum hegen seine hochfürstl. Durchlaucht das gnädige Vertrauen, dass Sie mit den Musikern nicht brutal, sondern bescheiden, ruhig und ehrlich umgehen werden.»
Das war wohl gar nicht nötig. Haydn wurde von Zeitgenossen als besonnener und einfühlsamer Vorgesetzter beschrieben. Austoben konnte Haydn sich schließlich in seinen Werken. Etwa in seinem Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1, das er in seinen ersten Jahren am Hof bis 1765 komponierte. Der erste Satz erscheint mit seinen höfischen Formen, seinem gemütlichen Moderato und warmen C-Dur noch konventionell. Im Adagio sucht eine fast endlose Melodie mit einer leichten Wehmut, ohne ein Ziel zu finden. Das Cello muss hier schon über weite Teile in einer herausfordernd hohen Lage spielen. Der dritte Satz hat es dann in sich. Wie in einem Wettstreit steigern sich Orchester und Cello in Tempo und Virtuosität. Bewältigen durfte das der Cellist Joseph Weigel, Haydns Freund aus dem Hoforchester, der 1769 Mitglied der Wiener Hofkapelle wurde und für den Haydn das Konzert komponierte. Die Virtuosen danken es ihm noch heute.
Torben Selk
PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKI
Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 «Pathétique»
Dauer: ca. 45 Minuten
Entstehung: 1893
Am 6. November 1893 stirbt Pjotr Iljitsch Tschaikowski plötzlich und unerwartet. Die Umstände seines Todes geben Anlass zu Spekulationen: Einige berichten von einer Vergiftung, andere behaupten, er sei durch ein verseuchtes Glas Leitungswasser an Cholera erkrankt. Wiederum andere glauben, dass Tschaikowski sich im Zusammenhang mit dem Skandal um seine Homosexualität das Leben genommen habe. Diese Annahme scheint durch das unheilvolle, fast Requiem-artige Ende seiner letzten Sinfonie Nr. 6 bestärkt zu werden, die in ihrer Melancholie und Dunkelheit einen Hauch von Abschied und Tod atmet. Nur neun Tage vor seinem Tod wird die Pathétique uraufgeführt. Die Gerüchte um Tschaikowskis plötzlichen Tod sind ebenso vielfältig wie spekulativ – doch bewiesen ist nichts.
Das Publikum ist bei der Uraufführung irritiert. Mit so viel Schwermut hatten selbst die mit Melancholie vertrauten Petersburger nicht gerechnet. Auch das Orchester ist erstaunt über das musikalische Schluchzen und Seufzen, das die Partitur verlangt. Dabei beschreibt Tschaikowski den Kompositionsprozess als überraschend mühelos: «In weniger als vier Tagen hatte ich den ersten Satz ganz fertig, und die übrigen Sätze zeichneten sich bereits klar in meinem Kopf ab!» In den folgenden vier Wochen stellt er die Sinfonie fertig, reist durch Europa und schmiedet neue Pläne. Keine Spur von Lebensmüdigkeit. Im Gegenteil, er schreibt dem Großfürsten Konstantin begeistert und stolz: «In diese Sinfonie legte ich ohne Übertreibung meine ganze Seele. Ich halte sie für das beste, namentlich aber für das aufrichtigste aller meiner Werke.»
Bevor Tschaikowski seiner Sinfonie auf Anraten seines Bruders den Beinamen Pathétique gibt, bezeichnet er sie als Programmsinfonie. Aber top secret: «Es ist von der Art, dass es für alle ein Rätsel bleiben wird!» Was damit gemeint ist – auch darüber gibt es noch heute Spekulationen, die hinter der leidenschaftlichen, hoch emotionalen Musik eine Erklärung für eine verbotene Liebe zu seinem Neffen Wladimir Dawidow vermuten, dem die Sinfonie oft zugeschrieben wird. Immerhin gibt Tschaikowski über den thematischen Auf bau der Sätze Auskunft: Zuversicht und Tatendrang – Liebe – Enttäuschung – Tod und Verzweif lung.
Die Sinfonie Nr. 6 entfaltet sich in einer düsteren, fast erdrückenden Intensität, besonders im ersten Satz, der mit Blechbläser-Chorälen in eine Welt der Verzweif lung entführt. Die inneren Sätze – der tänzerische zweite, ein anmutiger Walzer im ungewöhnlichen 5/4-Takt, der wie ein sanfter Wind durch die Streicher fegt, und der f lammende, triumphale Marsch des dritten, der bei aller vermeintlichen Fröhlichkeit doch blutleer daherkommt – wirken eher wie Zwischenspiele und leiten unmerklich auf den tiefen, tragischen Höhepunkt zu. Tschaikowski bricht mit dem Beethoven’schen Modell «Durch die Dunkelheit ins Licht», indem er die Pathétique mit einem nihilistischen Adagio abschließt, das in einen anhaltenden h-Moll-Akkord übergeht. Dieser Schlusspunkt bereitet die Bühne für ein neues Zeitalter düsterer Requiems. «In diese Sinfonie legte ich meine ganze Seele», sagte Tschaikowski. Doch was passiert mit einer Seele, wenn der Trauerzug beendet ist? Auch darauf bekommen wir keine Antwort. Und vielleicht bleibt es gerade diese ewige, unlösbare Frage, die den Zauber dieses Werkes ausmacht – in seiner Dunkelheit, seiner Stille und seiner unendlichen Trauer.
Markus Tatzig
MARCO COMIN
Dirigent
Marco Comin wurde in Venedig geboren und ist einer der vielseitigsten Dirigenten der Gegenwart. 2005 wurde er als 2. Kapellmeister an das Deutsche Nationaltheater Weimar engagiert. Drei Jahre später übernahm er die Position des 1. Kapellmeisters und stellvertretenden Generalmusikdirektors am Staatstheater Kassel. Von 2012 bis 2017 war er Chefdirigent des Staatstheaters am Gärtnerplatz in München. In dieser Zeit machte er sich neben Opern des 18. bis 20. Jahrhunderts, insbesondere Mozart, Verdi und Britten, auch als Barockdirigent einen Namen. Als profunder Kenner der Aufführungspraxis der Alten Musik plegte er einen exquisiten historisch informierten Stil für Bühnenwerke und Konzertreihen. Er ist Gastdirigent an der Staatsoper Stuttgart, der Ungarischen Staatsoper, der Staatsoper Budapest, der Oper Graz, dem Aalto-Theater Essen und dem Theater Bremen. Außerdem dirigierte er Konzerte u. a. mit den Münchner, Essener und Dortmunder Philharmonikern und dem Orchestra di Padova e del Veneto. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent hat Marco Comin kritische Ausgaben von Werken verschiedener zu Unrecht vergessener Komponisten des Barock und der Klassik verfasst.
WOLFGANG EMANUEL SCHMIDT
Violoncello
Mstislaw Rostropowitsch sagte zu dem damals achtjährigen Wolfgang Emanuel Schmidt: «Du wirst ein großer Cellist werden.» Fünfzehn Jahre später erhielt er beim Rostropowitsch-Wettbewerb unter dem Vorsitz des Namensgebers den Grand Prix sowie den Preis für zeitgenössische Musik und ein Studium bei Rostropowitsch. Seitdem konzertiert er mit international angesehenen Orchestern und Dirigenten wie Marek Janowski, Charles Dutoit und Michael Sanderling. 2013 wurde er u. a. mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Der Virtuose ist Mitglied des Gropius Quartetts, bei Klangrausch the art of string trio und gründete das Kammerorchester Metamorphosen Berlin, mit dem Wolfgang Emanuel Schmidt regelmäßig in der Elbphilharmonie und in der Berliner Philharmonie auftritt. Sony Classical veröffentlichte inzwischen 6 Alben. Zuletzt erschien beim Deutschen Grammophon die CD The Chopin Project von Camille Thomas, bei der er mitwirkte. Wolfgang Emanuel Schmidt lehrt als Professor an der Hochschule für Musik «Franz Liszt» Weimar sowie an der Kronberg Academy.
Impressum
HERAUSGEBER Philharmonisches Orchester Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 21
GENERALMUSIKDIREKTOR Marc Niemann
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Markus Tatzig, Torben Selk
QUELLEN
Brown, David: Tchaikovsky. The man and his music. London 2006.
Finscher, Ludwig: Joseph Haydn und seine Zeit. Laaber 2000.
Woitas, Monika: Strawinskys Bühnenwerke. Lilienthal 2022.
AUFFÜHRUNGSRECHTE
Le chant du rossignol: Boosey & Hawkes, London / Berlin
Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 C-Dur Hob. Vllb:1: Bärenreiter-Verlag, Kassel
Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 «Pathétique»: Forberg, Berlin