Programm
Dirigent: Davide Perniceni
Violine: Frank-Michael Erben
Philharmonisches Orchester Bremerhaven
DARIUS MILHAUD (1892-1974)
Le bœuf sur le toit
WOLFGANG AMADEUS MOZART (1756-1791)
Konzert für Violine und Orchester Nr. 3 G-Dur KV 216
Allegro
Adagio
Rondeau: Allegro – Andante – Allegretto – Tempo primo
JOHANNES BRAHMS (1833-1897)
Sinfonie Nr. 4 e-Moll
Allegro non troppo
Andante moderato
Allegro giocoso
Allegro energico e passionato – Più Allegro
Dauer: ca. 1 Stunde 45 Minuten Stunden // eine Pause nach ca. 40 Minuten
Darius Milhaud
Le bœuf sur le toit
Dauer: ca. 15 Minuten
Entstehung: 1919
In Europa tobt der Erste Weltkrieg. Doch Darius Milhaud hat Glück: Er darf vom Februar 1917 bis zum November 1918 als Botschaftssekretär in Brasilien arbeiten, was ihn vom Wehrdienst befreit. Milhaud kommt in Rio de Janeiro an. Und er taucht in eine andere Welt ein: «Meine erste Begegnung mit Brasilien war einprägsam. Ich kam mitten zur Zeit des Karnevals an. Mir sprang sofort die Stimmung verrückter Fröhlichkeit ins Auge, die die gesamte Stadt einnahm.» Ist sonst schon jeder Karneval spektakulär, findet dieses Jahr ein besonderer statt. Denn 1917 wird das Lied Pelo Telefone von Ernesto Joaquim Maria dos Santos, genannt Donga, bekannt, das als «Geburt des Samba» gilt. Milhaud ist fasziniert von den feurigen Rhythmen und der Klangvielfalt des Samba, die in jeder Straße und Bar São Paulos und Rio de Janeiros erklingen. Milhaud hört sie beim Karneval, auf der Copacabana – und schreibt sie auf. Sie bieten einen Ausdruck, auf den er später noch einmal zurückkommen will.
Als Milhaud Ende 1918 wieder nach Frankreich zurückkehrt, herrscht allgemeine Erleichterung: Der Krieg ist zu Ende. Da passt die Lebensfreude der brasilianischen Musik ideal. Milhaud zückt sein Notizbuch und verwendet ganze 25 Melodien in seinem Ballett Le boeuf sur le toit, «der Stier auf dem Dach», das er 1920 uraufführen lässt. Das Publikum fühlt sich bestens unterhalten. Bei der skurrilen Handlung kein Wunder: Sie spielt in den USA zur Zeit der Prohibition. In einer Bar verbringen Gäste ihren Abend. Ein Polizist tritt ein. Sofort verwandelt sich die Bar in eine Milchbar. Der Polizist traut dem Frieden nicht, untersucht die Einrichtung und wird schließlich vom Barkeeper mit einem übergroßen Ventilator geköpft. Eine Frau tanzt mit dem Kopf. Schließlich verschwinden die Gäste, und der Barkeeper belebt den Polizisten wieder. Der soll nämlich die Rechnung zahlen ... Das Stück wird so beliebt, dass die belebten Pariser Zwischenkriegsjahre auch als «die Zeiten von Le boeuf sur le toit» bezeichnet werden. Auch eine Kabarett-Bar in Paris benennt sich danach. Wenngleich dort keine Polizisten geköpft werden.
Wolfgang Amadeus Mozart
Konzert für Violine und Orchester Nr. 3 G-Dur KV 216
Dauer: ca. 25 Minuten
Entstehung: 1775
Mozart fühlt sich nicht schlecht in seiner Geburtsstadt Salzburg. 1772 wird er Konzertmeister. Und Anlässe für neue Werke gibt es überall: an der Universität, der Kirche oder am Hof. Mozart kann sich in verschiedenen Gattungen ausprobieren. Und die Oper? Da wird es schwierig. Das Hoftheater wurde 1775 geschlossen. Uraufführungen sind nur außerhalb möglich. Dafür braucht Mozart Freistellungen. Also fragt er an. Immer wieder. Auch für Konzerttourneen. Irgendwann wird es dem Erzbischof Colloredo zu viel. Er wollte eigentlich die langanhaltende Vetternwirtschaft in Salzburg beenden, muss sich nun aber mit den Bedürfnissen eines Wunderkinds auseinandersetzen. Und auch Mozarts Kollegen aus dem Orchester sind nicht begeistert von den Sonderwünschen. Die Stimmung wird gereizt: «Es kann ja ein anständiger Mann, der Lebensart hat, nicht mit ihnen leben», so Mozart über seine «groben» und «liederlichen» Kollegen. Anspruch und Möglichkeiten passen in Salzburg also nicht mehr zusammen. 1781 hat Mozart genug. Er packt seine Sachen und zieht nach Wien.
Bis dahin kann er seinen Stil in einigen Gattungen aber vollenden. Etwa im Violinkonzert. 1773 entsteht sein erstes, 1775 folgen die restlichen vier. Das dritte bezeichnet Mozarts Biograf Alfred Einstein als «Wunder». Denn es streift barocke Merkmale ab. So stehen sich Solist und Orchester nicht mehr wie im Wettstreit gegenüber, sondern führen gleichberechtigt einen Dialog. Dazu sprüht das Konzert vor Heiterkeit. Der zweite Satz entfaltet zwar einen Traum, dessen unendlicher Gesang zunehmend Sehnsüchte, auch schmerzliche, hervorruft. Diese werden im Schlussrondeau aber überwunden: Dort erklingt u. a. ein markantes, feierliches Allegretto. Mozarts Zeitgenossen erkennen dessen Melodie sofort, es gilt als «straßburgisch». Daher auch der Beiname «Straßburger Konzert». Noch heute erfreut es sich dank seiner Heiterkeit, Formvollendung und Fülle an Melodien großer Beliebtheit.
Torben Selk
Johannes Brahms
Sinfonie Nr. 4 e-Moll
Dauer: ca. 45 Minuten
Entstehung: 1884-1885
Manchmal sieht er aus wie ein Bär im Mantel: großer Kopf, struppiger Bart, grantiger Blick. Hinter dieser Fassade aber wirkt ein sensibler, scharf beobachtender Geist – schüchtern, tiefgründig, oft selbstironisch. Als Johannes Brahms seine 4. Sinfonie in Angriff nimmt, zweifelt er lange: Lohnt sich noch eine? Gibt es noch etwas zu sagen, nach Beethoven? In einem Brief nennt er sie scherzhaft «ein paar entr’actes» – als wäre das nur Beiwerk. Doch was er komponiert, ist ein sinfonischer Abgesang von großer Würde und formaler Kühnheit.
Brahms schreibt die Sinfonie über zwei Sommer im steirischen Mürzzuschlag. Viel weiß man nicht über ihre Entstehung. Kein Programm, keine Deutung, kein Selbstkommentar. Vielleicht will Brahms nur, dass die Musik für sich spricht. Oder er weiß genau, wie fremd sie dem schnellen Beifall sein wird. Denn was er hier wagt, ist weder populär noch bequem: eine Musik, die leise anhebt, sich schichtweise entfaltet und immer tiefer ins Gewebe ihrer Themen vordringt. Nicht laut, nicht gefällig – aber voll innerer Spannung. Schon die Uraufführung im Oktober 1885 in Meiningen mit Brahms am Pult löst gemischte Reaktionen aus. Clara Schumann ist begeistert, doch Kritiker wie Eduard Hanslick oder Hugo Wolf rümpfen die Nase: zu düster, zu kopf lastig, zu wenig eingängig. Auf den Rhythmus des Beginns des ersten Satzes soll man gesungen haben: «Es-fiel-ihm-wie-der-mal-nichts-ein.» Und doch: Diese Musik hat Bestand. Und das Urteil des Publikums beginnt zu kippen.
Schon der erste Satz zeigt, dass es Brahms nicht um Effekte geht. Der Beginn ist leise, fast spröde – keine große Melodie, sondern eine Folge von Intervallen. Doch daraus entwickelt Brahms ein ganzes sinfonisches Universum. Aus einer einfachen Terz entstehen Motive, die sich immer wieder neu verknüpfen, verwandeln, verdichten. Was so unscheinbar beginnt, wächst zu innerer Größe. Arnold Schönberg nennt diese Technik später «entwickelnde Variation» und erklärt Brahms zum Ahnherrn der Moderne. Von Einfallslosigkeit keine Spur.
Der zweite Satz beginnt mit einer archaisch wirkenden Bläserlinie, die sich aus der phrygischen Kirchentonart speist – ein Tonraum zwischen Dur und Moll, zwischen Antike und Gegenwart. Die Streicher antworten zupfend, dann trägt eine kantable Melodie den Satz durch ein weites, fast träumerisches Gelände. Der dritte Satz – Brahms’ einziges echtes Scherzo – ist von ganz anderem Kaliber: energisch, extrovertiert, mit einem ironischen Unterton. Wenn hier die Triangel einsetzt, klingt das fast übermütig. Es ist, als würde Brahms kurz die Maske lüften und uns angrinsen.
Denn am Ende steht ein Wagnis: eine Passacaglia – 31 Variationen über eine acht Takte lange Bassfigur, angelehnt an ein Choralthema von Bach. Brahms verwebt die einzelnen Variationen so geschickt, dass man kaum spürt, wie streng das Gerüst dahinter ist. Alles klingt organisch, atmend, wie aus einem Guss. Alte Form trifft neue Gedanken. Kein Finale mit Pomp, sondern eines mit Würde. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass das Wort Passacaglia sich aus dem Spanischen ableitet: Pasar – vorbeigehen, calle – die Straße. Brahms, der sinfonische Wanderer.
Als Brahms im Frühjahr 1897 seine Vierte noch einmal in Wien hört, bekommt er stürmischen Applaus. Er verbeugt sich, verhalten lächelnd, mit einem schlichten Nicken. Wer will, darf diesen Moment als Abschiedsszene lesen. Denn zwei Wochen später stirbt er. Seine letzte große Geste – ganz ohne Pathos, aber mit Haltung. Und heute? Gilt Brahms’ Vierte vielen als seine größte.
Markus Tatzig
Davide Perniceni
Dirigent
Davide Perniceni studierte Klavier und Komposition in Bergamo. Sein Interesse an historischer Spielpraxis führte ihn zu einer Spezialisierung auf dem Fortepiano, ehe Studien in Orchesterleitung am Conservatorio Verdi in Mailand und an der Accademia Chigiana in Siena folgten. 2016 wurde er Dirigent und Korrepetitor am Theater Heidelberg. 2018 übernahm er die musikalische Leitung von Le nozze di Figaro am Daegu Opera House, von Vivaldis La verità in cimento für die Barockfestspiele Winter in Schwetzingen sowie 2022 und 2023 von Produktionen für das Sommerfestival Oper im Steinbruch. 2019 dirigierte er den Barbier von Sevilla am Theater Kiel und Sinfoniekonzerte mit der Baden-Baden Philharmonie. Zudem arbeitet er regelmäßig als musikalischer Assistent mit Paolo Carignani, etwa bei Cavalleria rusticana/Pagliacci am Opernhaus Zürich, Nabucco an der Griechischen Nationaloper, Aida an der Königlichen Oper Kopenhagen und La forza del destino an der Deutschen Oper Berlin. Seit der Spielzeit 2019/2020 ist Davide Perniceni 1. Kapellmeister am Stadttheater Bremerhaven und übernahm seitdem u. a. die musikalische Leitung von La Cenerentola, Der Freischütz und Le nozze di Figaro.
Frank-Michael Erben
Violine
Frank-Michael Erben gehört zu den vielseitigsten Künstlern seiner Generation. Noch während seines Studiums wurde er im Alter von 21 Jahren zum 1. Konzertmeister des Gewandhausorchesters gewählt. Er gastierte bei zahlreichen Orchestern in Deutschland, beim Athens State Orchestra, dem Orquestra Filarmónica de Santiago in Chile und beim Herzliya Chamber Orchestra in Israel. Dabei arbeitete er mit Dirigenten wie Kurt Masur, Herbert Blomstedt, Riccardo Chailly und Andris Nelsons. Mit Mendelssohns Violinkonzert ging er als Solist gemeinsam mit dem Gewandhausorchester auf Europatournee. Er gibt Meisterkurse für Violine und Kammermusik u. a. an der Wichita State University und am Beethoven-Haus Bonn. 2007 wurde Erben zum 1. Konzertmeister des Bayreuther Festspielorchesters berufen. Seit über 30 Jahren führt er als Primarius das Gewandhaus-Quartett. Dessen Gesamtedition der Beethovenschen Streichquartette wurde mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Seit mehreren Jahren ist Erben auch als Dirigent erfolgreich tätig. So stand er etwa von 2009 bis 2014 als Chefdirigent dem Leipziger Symphonieorchester vor.
Impressum
HERAUSGEBER Philharmonisches Orchester Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 25
GENERALMUSIKDIREKTOR Marc Niemann
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Markus Tatzig, Torben Selk
QUELLEN
do Lago, Manoel Aranha Corrêa: Brazilian Sources in Milhaud’s ‹Le bœuf sur le toit›, in: Revista de Música Latinoamericana (2022) 1.
Geck, Martin: Mozart. Eine Biografie. Reinbek 2005.
Murphy, Scott (et. al.): Brahms and the shaping of time. Rochester 2018.
Sandberger, Wolfgang (Hrsg.): Brahms Handbuch. Stuttgart 2009.
AUFFÜHRUNGSRECHTE
Le bœuf sur le toit op. 58: Max Eschig, Paris. Vertreten durch Casa Ricordi, Mailand
Konzert für Violine und Orchester Nr. 3 G-Dur KV 216: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden