Zum Stück
Der Dorfbrunnen ist versiegt und alle Versuche, ihn zu reparieren sind fehlgeschlagen. Und so müssen die Kinder im Dorf jeden Tag weit laufen, um Wasser zu holen. Aber eines Tages fällt Großmutter eine alte Geschichte ein: Jemand muss zum goldenen Brunnen gehen, auf dem Weg drei lebensgefährliche Aufgaben bestehen und von dort eine Kanne Wasser holen, um den kranken Brunnen zu heilen. Obwohl die Kinder die Geschichte nicht so recht glauben wollen, ist ihnen das Ganze doch nicht geheuer. Nur Maschenka ist bereit, sich auf den Weg zu machen. Gegen die Gefahren des Weges gibt Großmutter ihr drei magische Streichhölzer mit, die Wünsche erfüllen können. Die steckt Maschenka in ihre Tasche, in der sie noch etwas Brot und Speck hat als Proviant für den Weg.
Kaum ist Maschenka in der Märchenwelt, wird sie in den schwarzen Wäldern von den Häschern des Wolfskönigs gefangen, damit der sie am nächsten Tage fressen kann. In der Gefangenschaft trifft sie auf Mischa, ein ehemaliger Soldat, der einige Kriege überlebt hat. Diese Erfahrungen haben bei ihm einen nie endenden Hunger zurück-gelassen sowie eine zu große Lust auf Schnaps. Um sich selbst und Mischa zu befreien, reißt Maschenka das erste Wunschhölzchen an.
Nach der Flucht aus den schwarzen Wäldern machen die beiden Rast. Und während Maschenka schläft, überlegt Mischa, was er mit den Wunschhölzchen bewirken könnte. Sein größter Wunsch wäre, dass seine Tasche immer voll Brot und Speck wäre und seine Flasche immer voll Schnaps – doch da hat er aus Versehen Maschenkas zweites Wunschhölzchen angerissen und sein Wunsch wird wahr! Wie soll er das Maschenka nur erklären? Er steckt eines seiner eigenen Streichhölzer in die Schachtel und beschließt, es ihr später zu sagen.
Im Nebelwald werden Mischa und Maschenka von menschen-fressenden Waldschraten überlistet, die sie in ihre Hütte locken. Dann versperren sie die Tür und blasen eisigen Wind hinein. Mischa zündet im Kamin ein Feuer an, damit es wärmer wird. Doch Onkelchen setzt sich oben auf den Kamin, um das Feuer zu ersticken. In der Hütte wird es kälter und kälter. Maschenka wird langsam so schwach, dass sie droht zu erfrieren. Da zündet Mischa schnell das dritte Wunschhölzchen an – und rettet sich und Maschenka.
Jetzt müssen die beiden nur noch zum goldenen Brunnen. Doch der wird von einem zweiköpfigen Drachen bewacht. Die Köpfe Pimpusch und Pampusch halten Wache und fressen jeden auf, der sich nähert. Maschenka reißt das letzte Streichholz an, um auch dieses Hindernis zu überwinden – doch es passiert nichts. Jetzt muss Mischa gestehen, dass er das Streichholz verschwendet hat. Maschenka ist wütend und verzweifelt. In der Not will Mischa sich fressen lassen, damit die Drachen abgelenkt sind. Als er sich mit einem letzten Schluck aus seiner Schnapsflasche Mut antrinken will, entdeckt Pampusch die Flasche und will sie haben. Mischa wittert seine Chance und gibt sie ihm. Da die Flasche niemals leer wird, betrinken sich die beiden Drachenköpfe so sehr, dass Mischa sie bezwingen kann – und der Weg ist frei! Der goldene Brunnen füllt Maschenkas Kanne mit seinem Wasser und sie kann sich auf den Heimweg machen. Mischa, den sie einlädt mitzukommen, lehnt ab und trägt ihr auf, Großmutter Grüße auszurichten.
Zurück im Dorf wird Maschenka mit einem Freudenfest begrüßt, denn die Wassernot hat nun ein Ende.
Bianca Sue Henne
Zum Autor
Otfried Syrowatka wurde am 20. Oktober 1923 in Liberec, das damals Reichenberg hieß, geboren. Seine sudetendeutschen Eltern hießen Ernestine Tscherwenka und Josef Syrowatka. Als Bekenntnis zu seiner deutschen Nationalität benannte sein Vater die Familie 1941 in Erinnerung an seine Mutter Agnes Praiszler in Preußler um. Gestorben ist Preußler am 18. Februar 2013 in Prien am Chiemsee.
Er hat rund 38 Kinder-, Jugend- und Bilderbücher veröffentlicht und gilt als einer der bekanntesten und meistgelesenen deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchautoren. Zu seinen bekanntesten Werken gehören als sogenannte Der-die-das-Trilogie Der kleine Wassermann (1956), Die kleine Hexe (1957) und Das kleine Gespenst (1966), die Geschichten vom Räuber Hotzenplotz (1962, 1969 & 1973) und das Jugendbuch Krabat (1971). Er war Träger des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse und Mitbegründer der deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur.
Das Märchenspiel Der goldene Brunnen erschien 1975 bei dtv-junior als Taschenbuch inklusive Noten zu den enthaltenen Liedern und 1984 nochmal in einem Sammelband zusammen mit drei weiteren Geschichten von Otfried Preußler. Da es jedoch von Anfang an als Theaterstück konzipiert war und nicht als Prosatext erschien, ist es nie richtig bekannt geworden.
In seinem Elternhaus erzählten sein Vater und seine Großmutter den Kindern viel und lasen oft vor. Da sein Vater intensive Heimatkunde betrieb, verfügte er über ein riesiges Repertoire an Geschichten und eine sehr gut bestückte Bibliothek. Nach dem Ende des Reiches Österreich-Ungarn wurde in böhmischen Schulen Tschechisch die Unterrichtssprache. Preußler sagte später, dass ihm das Lernen der neuen Sprache viel Mühe gemacht hätte, er aber später beim Aneignen weiterer Fremdsprachen sehr davon profitiert hätte.
1942 besteht er sein Abitur, und meldet sich direkt zum Kriegsdienst. Seine Jugend ist geprägt vom Nationalitätenkonflikt zwischen Deutschen und Tschechen. Als Kind ist Preußler mit großem Eifer bei den nationalistischen Jungturnern, die später mit der Hitlerjungend gleichgeschaltet werden. Und er beginnt schon als Jugendlicher zu schreiben. Ob er je Mitglied der NSDAP war, ist ungeklärt. Bei seinem Antrag um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer (Was für ein Wort!), gibt er eine Mitgliedschaft an, das ist allerdings im September 1941. Preußler ist damit noch nicht volljährig, was eine Mitgliedschaft eigentlich ausschließt. In seiner Kriegsgefangenenakte ist auch eine Mitgliedschaft vermerkt. Im Bundesarchiv, wo die offiziellen und gut geführten Mitgliedslisten des NSDAP vorliegen, findet man seinen Namen nicht. Feststeht, dass er mit großer Begeisterung in den Krieg zieht und eine erste Postkarte aus dem Feld mit «Heil Hitler» unterzeichnet.
Während des Krieges und in sowjetischer Gefangenschaft kommen ihm erste Zweifel. Er nimmt das Schreiben wieder auf. Seine ersten Manuskripte aus dieser und der Nachkriegszeit landen mit dem Vorwurf der Nazi-Propaganda in der SBZ (Sowjetisch besetzte Zone, später DDR) auf der «Liste auszusondernder Literatur». Während seiner Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1949 entlassen wird, schreibt er Texte, die sich mit Macht, ihrer Verführungskraft, und den Fragen nach Gehorsam und Verantwortung beschäftigen.
Ein erstes Theaterstück mit dem Titel Mensch Nr. 2301 wird in den frühen 1950ern am Westfälischen Landestheater in Castrop-Rauxel uraufgeführt. Es spielt in einem Gefangenenlager und stellt die Frage von Schuld und Verantwortung des einfachen Soldaten.
Sein Jugendbuch Krabat (erschienen 1971), dessen Geschichte ihren Ursprung in einer sorbischen Sage hat und während des Dreißigjährigen Krieges spielt, ist unübersehbar und auch laut seinen eigenen Aussagen seine persönliche Abrechnung mit sich selbst und der Nazi-Zeit. Preußler schreibt dazu in seiner Biografie, die 2012 erscheint: «Es ist meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation, es ist die Geschichte aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.»
Peter Hilton Fliegel
Was für Helden!
In Büchern zeichnen sich Helden dadurch aus, dass sie Gefahren trotzen und am Ende über das Böse siegen, unter Einsatz des eigenen Lebens. Preußlers «Helden» sind anders. Sie sind Außenseiter, ein bisschen wie die Hobbits bei Tolkien. Sie suchen das Abenteuer nicht, es kommt zu ihnen. Sie haben Angst, die sie überwinden. Und sie besiegen ihre Gegner nicht mit Kraft, sondern mit List und Witz.
Wenn am Anfang des Stückes die Kinder eines nach dem anderen weggehen, nachdem Großmutter erzählt hat, unter welchen Gefahren man den Weg zum goldenen Brunnen findet, ruft ein Kind den anderen hinterher: «Was für Helden!» Aber am Ende dieser Szene zeigt sich, dass echter Mut darin besteht, die eigene Angst zu erkennen. Als Großmutter Maschenka fragt, ob ihr die drei Gefahren keine Angst machten, antwortet diese dreimal: «Doch.» Und beweist Mut, indem sie dieser Angst ins Auge blickt und sich auf den Weg macht.
Später, nachdem Mischa das zweite Hölzchen verschwendet hat, sehen wir, wie schwer es fallen kann, einen Fehltritt einzugestehen. Mischa weiß, warum er den unstillbaren Wunsch nach Essen und Trinken hatte. Und er weiß auch, wie sehr er Maschenka geschadet hat. Aber er findet erst den Mut sich seinem schlechten Gewissen zu stellen, als es nicht mehr anders geht. Und bietet dann an, sein Leben zu opfern, um Maschenka zu retten. Am Ende schafft Mischa es, den Drachen, zu überlisten. Wieder siegt Witz über Gewalt.
Beim Abschied von Mischa und Maschenka findet sich noch ein Beispiel für Mut. Maschenka bietet dem heimatlosen Mischa an, mit ihr ins Dorf zu kommen. Aber er lehnt ab. Er kann nicht zurück in die normale Welt. Und er weiß, dass Maschenka ihren eigenen Weg gehen muss. Das ist vielleicht kein fröhlicher Moment, aber so ist das Leben eben. Und das anzuerkennen, erfordert auch Mut – Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen.
Peter Hilton Fliegel
Impressum
HERAUSGEBER Stadttheater Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 11
INTENDANT Lars Tietje
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Peter Hilton Fliegel
QUELLEN
Der goldenen Brunnen von Otfried Preußler, Verlag für Kindertheater Weitendorf, Hamburg
Die Texte «Zum Stück» von Bianca Sue Henne sowie «Zum Autor» und «Was für Helden!» von Peter Hilton Fliegel sind Originalbeiträge für diesen Programmflyer.