ZUM STÜCK
Marie ist gerade 30 geworden. Verkatert wacht sie neben ihrem Übernachtungsbesuch Tom auf. Und hört im Wohnzimmer ihre Eltern. Nicht optimal bei einer Mutter mit einem Hang zum Kontrollwahn. Marie schleppt sich müde zu den Eltern. Und lässt nach und nach durchblicken, dass sie nicht nur ihren Job gekündigt hat, sondern auch eine aussichtsreiche Beförderung ausschlug … Doch es sind nicht die einzigen Überraschungen an diesem Tag. Denn Tom hat bald keine Lust mehr, sich alleine im Schlafzimmer zu verstecken, und begrüßt Maries Eltern fröhlich in Unterhose. Zu guter Letzt schaut die hippe Oma Klara vorbei, die an Valeries spießiger Art einiges auszusetzen hat …
ZUR AUTORIN
Dörtig! Ennelk vulljährig stammt aus der Feder von Sofie Köhler, einer 1990 geborenen Schriftstellerin und Schauspielerin. Sie schrieb bereits als Teenagerin Kurzgeschichten, sang in Bands oder spielte auf der Bühne ihres Geburtsorts Templin. Nach ihrem Studium der Nordamerikanistik und Sprachwissenschaften in Kiel begann sie eine Ausbildung zur Tourismuskauffrau. Und lernte unsere Gesellschaft so von verschiedensten Seiten kennen. Während dieser Zeit blieb das Schreiben von Lyrik, Songtexten und Prosa ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens. Mit Dörtig! Ennelk vulljährig schrieb sie ihr erstes Theaterstück, mit dem sie 2021 auch gleich den niederdeutschen Konrad-Hansen-Preis gewann. Auf ihr weiteres Schaffen darf man gespannt bleiben.
GEFANGEN IN DER «RUSH-HOUR»
Gerade 30 geworden. Den Job gekündigt, mit dem sie erfolgreich war. Mit einem Mann aufgewacht, der im Gegensatz zu ihr mehr von ihr will. Und über all dem thront eine kontrollsüchtige Mutter. Marie hat es nicht leicht. Doch der Stress hat tiefere Wurzeln: «Ständig höre ich Leute sagen, welche Ziele man mit dreißig erreicht haben muss in der kurzen Zeit nach der Schule bis heute. Auslandsjahr, Ausbildung, Studium, am besten mit Master, den Partner fürs Leben finden, zwei Kinder bekommen, ein Haus bauen und nebenbei die Karriereleiter immer höher klettern. Das geht einfach nicht!» Man nennt diese Phase zwischen Mitte 20 und Ende 30 «Rush-Hour des Lebens.» Die Ausbildung dauert länger und die Spanne zwischen Berufseinstieg, -aufstieg und Familiengründung wird enger.
Für Frauen ist der Druck noch einmal höher. Mit 30 beginne die biologische Uhr zu ticken, heißt es oft. Doch dank moderner Medizin können Frauen heute auch mit Mitte 40 noch Kinder bekommen. Der Druck von außen bleibt aber groß. Er stammt wohl aus der Vergangenheit. Noch vor 50 Jahren war die Erwartungshaltung an Frauen klar: Nach der Schule einen Mann finden, ihn bis 30 heiraten und dann Kinder bekommen. Für das Einkommen sorgte zu großen Teilen der Vater. Dieses Bild hat sich inzwischen glücklicherweise geändert. Für eine Frau ist es heute fast so normal, sich persönlich zu entwickeln, beruf lich auszubilden und Karriere zu machen, wie für Männer.
«Jümmers höör ik Lüüd, de mi vertellt, wat een mit dörtig al fardig bringen mutt. Wo schall een dat denn allens schaffen? En Johr in’t Utland, Studeren, sülvstverständlich mit Master, den Keerl oder de Fro för’t Leven finnen, twee Kinner kriegen, en Huus boen un blangenbi ok noch de Karriereledder ropklattern. Dat geiht eenfach nich!»
Doch die neuen beruf lichen Erwartungen lassen sich schwer mit den alten privaten vereinbaren. Auslandsjahr, Studium, Praktika ... Je nach Studiengang sind die 25–30 Jahre schnell erreicht. Jobsuche, Berufseinstieg und Karrierefortschritt münden dann in den mittleren 30ern. Zudem haben sich mittlerweile zwei neue Erwartungshaltungen eingeschlichen: Denn der Job sollte Spaß machen oder Geld einbringen. Wer schon im Studium merkt, dass beides schwer wird, orientiert sich um. Und «verliert» damit Jahre. Dabei einen Partner fürs Leben zu finden, kann zur Herausforderung werden. Denn jeder Schritt kann mit Veränderungen einhergehen, die mit dem:der Partner:in gemeinsam überstanden werden müssen. Für Marie lautet der Ausweg aus diesem Dilemma: Ruhe bewahren. Denn sie findet einen ganz eigenen Weg, um sich aus der Rush-Hour-Schlinge zu ziehen …
WIE DIE MUTTER, SO DIE TOCHTER?
Die ersten Worte von Maries Mutter Valerie, nachdem sie die Wohnung ihrer gerade 30 Jahre gewordenen Tochter betrat, lauten: «Es sieht aus, als hätte hier eine Orgie stattgefunden. Nach einer zivilisierten Fete ist man ja wohl noch im Stande, das Gröbste zu entsorgen. Siehst du das Heinz? Rotwein in einem Wasserglas. Und Sekt in einer Kaffeetasse. Hätte ich das gewusst …» Wenige Beziehungen sind so speziell wie die zwischen Mutter und Tochter. Das liegt schon in der Natur der Sache: Die Mutter ist die erste Bezugsperson des Menschen. Und die Gesellschaft erwartet von beiden unter vorgehaltener Hand ähnliches: Nämlich Kinder zu bekommen. Für Frauen wird das Verhältnis zur Mutter dabei früh zum Vorbild für menschliche Beziehungen. In der Pubertät stellt sich dann die Frage, ob sie die Verhaltensweisen ihrer Mütter weiter übernehmen, oder sich von ihnen abgrenzen wollen. Umso mehr, je ausgeprägter die Verhaltensweisen der Mütter sind. So könnten auch Valerie und Klara kaum verschiedener sein: Hier die pedantische Mutter Valerie, dort die unbeschwerte, hippe Oma Klara, die nach dem Tod ihres Mannes erst einmal durch die Welt reiste nach dem Motto: Endlich frei. Sie unterstützt die Männerbesuche und Feiern ihrer Enkelin. Für Marie ist das schon ein wenig zu viel. Doch fühlt sie sich Klara oft näher als Valerie: «Valerie ist eine Glucke, die jeden erdrückt», meint Klara. Marie: «Vielleicht weiß sie es nicht besser. Da sie sich selbst immer eine Mutter gewünscht hat, die ihr Aufmerksamkeit schenkt, versucht sie, diesem Traum jetzt gerecht zu werden. Nur schießt sie damit leider manchmal über das Ziel hinaus.»
«Se hett sik jümmer en Mudder wünscht, de blots för ehr alleen dor is, un nu will se düssen Droom wohr maken. Leider överdrifft se männichmal un denn geiht se to wiet.»
Diese Besessenheit voneinander ist auch historisch bedingt. Denn vor der Auf klärung war das Verhältnis zwischen Mutter und Kind kaum vorhanden. Noch im 17. Jahrhundert hatten Kinder fast denselben Status wie Tiere, wie etwa Franz von Sales, der Fürstbischof von Genf, meinte: «Nicht nur bei unserer Geburt, sondern auch noch während unserer Kindheit sind wir wie Tiere, denen es an Vernunft, Denk- und Urteilsfähigkeit fehlt.» Mit dieser Haltung ging auch eine Kälte einher, nach der Mütter noch im 18. Jahrhundert ihre Neugeborenen von anderen großziehen ließen. Die französische Philosophin Elisabeth Badinter schließt daraus: «Die Mutterliebe ist, wie jedes Gefühl, ungewiss, vergänglich und unvollkommen. Sie ist möglicherweise kein Grundbestandteil der weiblichen Natur.» Mit Jean-Jacques Rousseau während der Aufklärung und vor allem mit Sigmund Freuds Psychoanalyse änderte sich ihre Rolle fundamental. Denn mit der Psychoanalyse wurde die Mutter zur Hauptverantwortlichen für das Glück des Kindes. Für die Mutter nicht nur eine schmeichelhafte Rolle. Denn der Druck wurde größer und damit auch die Gefahr, etwas falsch zu machen. In diese Falle tappte womöglich auch Valerie: Aus lauter Angst vor Fehlern versuchte sie, das Leben ihrer Tochter weitestgehend zu kontrollieren. Und macht es damit für die Gesellschaft schon falsch. Doch Marie bleibt gelassen. Sie kennt die obskuren Verf lechtungen in ihrer Familie. Und schließt mit ihrer Mutter Frieden. Obwohl sie ihr Leben noch einmal neu anfängt.
Torben Selk
Impressum
HERAUSGEBER Stadttheater Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 22
INTENDANT Lars Tietje
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Torben Selk
QUELLEN
Badinter, Elisabeth: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. München 1981.
Die Texte «Zum Stück», «Zur Autorin», «Gefangen in der Rush-Hour» und «Wie die Mutter, so die Tochter?» von Torben Selk sind Originalbeiträge für diesen Programmflyer. Zitate und Auszüge aus Gedichten wurden teils redaktionell bearbeitet.
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