Handlung
1. Akt
Über Verona liegt ein Schatten. Die Familien Capuleti und Montecchi stehen seit Jahren in erbitterter Feindschaft. Ein neuer Ausbruch von Gewalt droht.
Capellio, Anführer der Capuleti, baut auf Tebaldo als militärischen Verbündeten und verspricht ihm dafür die Hand seiner Tochter Giulietta.
Ein Bote der Montecchi bringt ein Friedensangebot: Beide Seiten sollen sich Verona teilen, besiegelt durch Giuliettas Hochzeit. Was niemand weiß: Der Bote ist Romeo – Giuliettas heimlicher Geliebter und der Mann, der Capellios Sohn im Krieg tötete. Wütend lehnt Capellio das Angebot ab.
Lorenzo, Giuliettas Vertrauter, ermöglicht Romeo heimlich ein Wiedersehen mit seiner Geliebten. Liebe, Schuld und Angst prallen aufeinander.
Die Capuleti bereiten Giuliettas Hochzeit mit Tebaldo vor. Romeo greift mit seinen Leuten an, um sie zu retten. Der Versuch scheitert. Capellio erkennt den Boten. Es ist Romeo.
2. Akt
Giulietta sieht keinen Ausweg mehr. Lorenzo schlägt einen verzweifelten Plan vor. Ein starkes Mittel soll sie in einen todes-ähnlichen Schlaf versetzen. Nach der Beisetzung wird Romeo sie aus der Familiengruft befreien. Giulietta stimmt zu.
Bevor das Gift wirkt, sucht Giulietta die Versöhnung mit ihrem Vater. Doch Capellio weist sie ab. Er lässt Lorenzo festnehmen, den er für das Verderben seiner Tochter verantwortlich macht.
Romeo wartet vergeblich auf Lorenzo und trifft auf Tebaldo. Ihr Duell endet, als ein Trauerzug erscheint. Giulietta wird beigesetzt.
Romeo dringt in die Gruft ein. Als er Giulietta reglos findet, nimmt auch er ein Gift, um ihr in den Tod zu folgen. Giulietta erwacht – doch es ist zu spät. Romeo stirbt in ihren Armen. Sie folgt ihm.
Capellio und Lorenzo erreichen die Gruft. Aber die Tragödie ist nicht mehr aufzuhalten. Der alte Hass triumphiert. Und zwei junge Leben sind verloren.
Krieg. Feindschaft. Und trotzdem Liebe.
Bellinis radikale Version von Romeo und Julia
Die berühmteste Liebesgeschichte der Welt – nur ohne Balkon, ohne Ball, ohne Mondscheinschwüre, ohne Nachtigall und Lerche. In Vincenzo Bellinis I Capuleti e i Montecchi erleben wir eine andere, frühere Fassung der so oft erzählten Tragödie um Romeo und Julia, die nichts beschönigt und nichts verklärt. Statt eines romantischen Jugenddramas zeigt Bellini eine Welt, in der der Hass zweier Familien jede Hoffnung im Keim erstickt. Leise, systematisch, unausweichlich. Und wir lernen zwei junge Menschen kennen, die in diesem verkorksten System verzweifelt versuchen, ein kleines Stück Leben zu bewahren.
Der Stoff ist älter als Shakespeare. Italienische Autoren wie Luigi da Porto, Matteo Bandello oder Luigi Groto erzählen schon Jahrzehnte zuvor Varianten dieser Liebesgeschichte. Aber roher, politischer und oft ohne jedes noch so kleine Fünkchen Trost. Diese Tradition denkt nicht in Romantik, sondern in Frontlinien. Hier geht es nicht um ein Schicksal, sondern um Systeme, um Clanstrukturen, um Krieg. Genau diese Perspektive übernimmt Bellini. Seine Oper beginnt nicht beim Verlieben. Nicht bei der ersten, sanften Berührung zweier Blicke. Wir befinden uns mitten im Konflikt: Die Liebe ist längst da. Doch die Welt lässt sie nicht zu.
Ein Krieg im Kopf.
Die Oper trägt nicht, wie bei Shakespeare oder in Gounods gleichnamiger Oper, die Namen des Liebespaars im Titel, sondern die ihrer verfeindeten Familien: Capuleti und Montecchi. Das ist Programm. Und rückt das Ganze radikal ins Politische. Bellini und sein Librettist Felice Romani erzählen die Geschichte daher konsequent von der Umgebung her. Von der Gewalt, der Loyalität, der Familienlogik, die alle Figuren gefangen hält. Giulietta ist bei Bellini keine schutzlose Heldin, sondern eine junge Frau mit einem scharfen moralischen Kompass. Sie trägt die Last des Brudermords – und weiß genau, was ihre Liebe für einen Vater bedeutet, der bereits einen Sohn verloren hat. Ihr innerer Konflikt ist groß, schwer, zerrissen. Romeo ist nicht nur Liebender, sondern auch Befehlshaber, Täter, Flüchtender, Opfer. Ein junger Mann, der zwischen Verantwortung, Schuld und Sehnsucht zerrieben wird. Und genau das macht die Oper so modern. Der Krieg dringt in jede Beziehung. Selbst in die intimste. Romeo und Giulietta lieben sich. Aber sie wissen: Diese Liebe hat einen Preis. Und er wird hoch sein.
Eine Liebe ohne Licht.
Musikalisch steht I Capuleti e i Montecchi mitten im Belcanto – und sprengt dessen Grenzen zugleich von innen. Bellini ist berühmt für seine langen Melodien, die sich über ganze Szenen ziehen. Seine Kantilenen klingen auf den ersten Blick schlicht, fast sparsam. Doch hinter der Einfachheit steckt eine enorme Konzentration. Wenige Töne, wenige Harmoniewechsel, die sich allmählich verdichten, steigern und wieder abebben. Wie ein seelischer Zustand, der aus einem einzigen Atemzug entsteht. Statt virtuoser Zurschaustellung setzt Bellini auf Innenspannung. Die Figuren suchen förmlich nach dem Ton, der ihrem Gefühl entspricht. Vortragsbezeichnungen wie piangendo (weinend), sospirando (seufzend) oder morendo (sterbend) zeigen, wie präzise Bellini Klang und Emotion verknüpft. Besonders eindrucksvoll ist das Schlussduett: Romeo stirbt nicht im großen Paukenschlag, sondern auf einem schmalen Streicherteppich. Die Stimme erlischt langsam. Ein musikalischer Tod im Klang.
Zwei Stimmen gegen eine Welt.
Eine Besonderheit: Romeo ist eine Hosenrolle, eine Mezzosopran-Partie. Der Klang der beiden Frauenstimmen – Romeo und Giulietta – verschmilzt zu einer Innigkeit, die der Oper fast etwas Zeitloses gibt. Ihre Duette sind Inseln im Sturm. Zarte Räume inmitten martialischer Männerchöre. Zwei Stimmen, die sich suchen in einer Welt, die sie zerreißt. Und die, so will es die Historie, von Männern dominiert und in den Krieg geführt wird. Im ersten Finale, wenn alle Stimmen gegeneinander laufen, singen Romeo und Giulietta plötzlich unisono. Ein Moment von erschütternder Klarheit. Für Bellini ist das keine Spielerei, sondern ein Symbol. Hier sprechen zwei Seelen mit einer Stimme.
Und doch – wir haben es nicht mit einer dekorativen Belcanto-Romanze zu tun. Sondern mit einer Oper über Krieg, Lagerdenken und die Generation, die den Konflikt erbt. Die Feindschaft der Familien ist nicht nur Kulisse. Sie bestimmt Denken, Sprache und Körper der Figuren. Die Liebe zwischen Romeo und Giulietta ist in diesem System eigentlich nicht vorgesehen. Und gerade deshalb so radikal. Die Perspektive des Arztes Lorenzo, der häufig als traumatisierter Kriegsmediziner gelesen wird und aus dieser Position auf seine Vergangenheit zurückblickt, verstärkt diesen Eindruck: Was hier geschieht, wirkt wie eine Erinnerung an eine Welt, in der persönliche Gefühle mit politischer Realität kollidieren. Die Frage, ob unter solchen Bedingungen eine «private» Liebe überhaupt eine Chance hat, ist alles andere als historisch. Sie trifft mitten in eine Gegenwart, in der Kriege, Polarisierungen und verhärtete Fronten wieder Alltag sind. Bellinis Oper gibt darauf keine tröstende Antwort. Sie zeigt eine Hoffnung – und ihr Scheitern. Zurück bleiben Klang, Erinnerung und die Ahnung, dass es anders hätte kommen können. Genau darin liegt ihre berührende Kraft.
«In deiner Hand liegt mein Schicksal, mein Leben und mein Tod.»Romeo, Akt I, Szene 2
Ein Theaterwunder unter Zeitdruck.
Entstanden ist I Capuleti e i Montecchi 1830 unter fast absurdem Zeitdruck: Bellini hat damals nur wenige Wochen. Anstatt ein neues Libretto zu entwerfen, greift er gemeinsam mit Romani auf ein früheres Textbuch zurück und formt daraus ein neues, scharfes, konzentriertes Musiktheater. Vieles ist wie mit glühender Nadel geschrieben. Und gerade dadurch so unmittelbar.
Beim Komponieren lässt Bellini sich leiten von seiner Idee des «richtigen Tons». Er spricht Szenen laut, beobachtet die Modu-lationen seiner eigenen Stimme und findet daraus die Melodie. Und erst, wenn die Emotion in ihm selbst vibriert, schreibt er sie nieder. Ein aus heutiger Perspektive möglicherweise ungewöhnlicher Zugriff. Aber einer, der sitzt.
Kein Shakespeare. Aber vielleicht ehrlicher.
Während Shakespeare auf Versöhnung setzt und durch den Tod der Liebenden den Krieg beendet, verweigert Bellini diesen Trost. Seine Oper endet nicht mit Frieden, sondern mit bitterer Erkenntnis: Der Hass ist stärker. Und er ist hausgemacht. Giulietta und Romeo sterben. Und die Feindschaft bleibt. Kein moralischer Lerneffekt. Kein Abfall der Waffen. Nur eine doppelte Tragödie. Gerade deshalb wirkt die Oper heute so unmittelbar: Weil sie zeigt, wie Menschen in verhärteten Systemen gefangen sind – oder sich darin verstricken. Wie Loyalität stärker sein kann als Liebe. Wie Gewalt und Schuld Generationen prägen und sie deformieren. Eine Anti-Kriegs-Oper. Eine Oper über Verantwortung. Eine Oper über die inzwischen so zeitlose und eigentlich ganz einfache Frage: Wie weit kann Liebe reichen?
Markus Tatzig
«Und ich … ich kehre zum Leben zurück, ausgerechnet in dem Augenblick, in dem du stirbst.»Giulietta, Akt II, Grab-Szene
Impressum
HERAUSGEBER Stadttheater Bremerhaven
SPIELZEIT 2025/2026, Nr. 11
INTENDANT Lars Tietje
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Markus Tatzig
SATZ Nathalie Langmaack
QUELLEN
Maguire, Simon: Vincenzo Bellini and the aesthetics of early nineteenth-century Italian opera. Reprint der Ausgabe von 1989. New York und London 2020.
Talia, Joseph: Italian Bel Canto in the age of vocal science. The evolution of the art and the science of singing. Queensland 2019.
Willier, Stephen Ace: Vincenzo Bellini. A guide to research. New York und London 2002.
Die Texte «Handlung» und «Krieg. Feindschaft. Und trotzdem Liebe. Bellinis radikale Version von Romeo und Julia» von Markus Tatzig sind Originalbeiträge für diesen Programmflyer. Zitate wurden teils redaktionell bearbeitet.
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