Eine Welt des Zufalls
Das Stück ist eine einzige große Anklage: Was sollen uns die Götter, wenn sie uns nicht beschützen? Der Krieg um Troja, ausgelöst durch ein Eifersuchtsdrama um Helenas Untreue, ist von Anfang ein sinnloser Krieg. Der Anführer der Griechen, Agamemnon opfert seine Tochter, um überhaupt mit seiner Flotte bis nach Troja zu gelangen. Bei der Belagerung der Stadt wüten die Griechen erbarmungslos. Am Ende gewinnen sie den Krieg nur mit einer List und vernichten Troja, statt es einfach zu besiegen. Agamemnons Königshaus ist verflucht und wird ausgelöscht und Odysseus wird noch zehn Jahre umherirren, bis er endlich als alter Mann zuhause ankommt.
Die Zuschauer sehen die Tragödie der Troerinnen, als wären sie griechische Soldaten, die vom Strand her auf die zerstörte Stadt blicken. Hier ist nichts feierlich, wir sehen keinen Tempel, keinen Palast, keinen offenen Platz – nur Kriegsruinen und ein paar Überlebende. Unter ihnen Trojas Königin Hekabe, die zum Stückbeginn aus einem quälenden Schlaf erwacht, nur um zu erfahren, dass alle trojanischen Frauen den Griechen zugesprochen werden – als Kriegsbeute. Der Herold der Griechen, Talthybios, verkündet zwar, wie es seine Pflicht ist, wer wem als Beute zugedacht ist, aber man gewinnt sehr schnell den Eindruck, dass er nicht einverstanden ist mit seinen Herren. Und der Chor kommentiert hier nichts mehr, ordnet nichts ein und stellt keine Fragen. Es ist ein Chor, der klagt und anklagt. Nacheinander treten jetzt Kassandra und Andromache auf. Auch sie klagen an. Kassandra prophezeit den Untergang der Griechen und Andromache beklagt die Zerstörung allen Lebens, die der Krieg gebracht hat.
Als kurz vor dem Ende Agamemnons Bruder Menelaos kommt, um Helena zur Hinrichtung abzuholen, wird schnell klar, dass er ihr wieder verfallen wird. Auch sein Unglück ist mit dem Sieg der Griechen nicht zu Ende.
Bei Euripides gibt es keinen gerechten Krieg mehr und die Götter gleichen das menschliche Unrecht nicht mehr aus. Sie haben in seinen Stücken keinen Einfluss mehr, der Zufall beherrscht die Menschen. In seinen Troerinnen gewinnen die Griechen den Krieg, obwohl sie moralisch verwerflich gehandelt haben. Die Troerinnen verlieren alles, obwohl sie nichts Unrechtes getan haben. Und Poseidon erlöst am Ende die Zuschauer nicht wie üblich, sondern entlässt sie mit einer Warnung.
Peter Hilton Fliegel
«Ihr Narren! Menschen, die ihr glaubt, man könnte Städte niederbrennen und aus Gräbern Wüsten machen, ohne selbst zugrund zu gehn.»Walter Jens und Euripides: Die Troerinnen (Der Untergang)
Der Untergang von Troja
Noch einmal, Troja, zum letzten Mal, weh! sprich es aus,
Troja, liebes, wie du starbst, am Friedenstag, am Todestag.
Frieden!
O Stunde des GIücks! kein Waffenrasseln, kein Totengeschrei,
schön wie am ersten Tag, so sanft und wunderbar.
Und dann das Pferd, das wie ein großes Kinderspielzeug,
fremd und stumm, als ob man es vergessen hätte, zwischen Stadt und Küste stand. Das Pferd – ein Sühneopfer, das die Griechen
Trojas Göttern spendeten: «Verzeiht uns, Himmlische,
und nehmt die Gabe an. Wir ziehen heim: genug der Toten jetzt.
Der Krieg ist aus.» Da jauchzten wir und schrien laut, wir sind frei!
Und zogen im Reigen, wie ein gewaltiges Schiff, das sich auf Rollen bewegt, zogen – wir alle! – das Pferd in die Stadt. Und holten es ein, in den Hof. Tanz auf den Straßen! Wein und Gesang! Die Türen: weit offen. Die Häuser: mit Blumen geschmückt O Frieden! Glück! Welch eine Nacht! Und hoch vorm Mond stand wie ein Traumbild bei Nacht der gewaltige Schatten des Pferds.
Und da auf einmal, von der Burg, aus der Stadt; überall: Aah! Ein Schrei, wie nie ein Schrei gewesen ist. Die – aus dem Bauch! Die, eingeschleust, die – verborgen im Schacht!
Die, verkleidet, auf offener Straße. Überall Griechen!
Ans Kleid ihrer Mutter gepresst: niedergemetzelt die Kinder! Die Beter im Tempel erwürgt! Wie Rattenherden sind sie gekommen,
die Griechen. Ratten, mit Zähnen wie Beile und einem Schweif
voll Blut. Zernagten das Holz, zerbissen das Fleisch.
Im Schatten verborgen, dem Nachtleib des Tiers, kam Ares zurück. KRIEG! Tyrannen! Griechen! KRIEG!
Walter Jens und Euripides: Die Troerinnen (Der Untergang)
Klagelied
Es schreien die Steine,
und die Gestade des Meers
brüllen vor Schmerz.
Und klagen,
wie ein Vogel klagt,
der seine Jungen schreien hört,
wenn der Adler ins Nest stürzt.
Schaut,
der Himmel brennt!
Vor Scham.
Eos!
Morgenröte!
Schirr den Wagen an!
Lasse alle Himmel
mit dem Purpurschimmer
deiner Räder leuchten,
dem Purpur,
der das Rot
der Schande ist!
Walter Jens und Euripides: Die Troerinnen (Der Untergang)
Der große Zweifler
Anders als die beiden anderen großen Tragiker Aischylos und Sophokles verkörperte Euripides einen neuen Künstler-Typus. Während die ersten beiden hohe Staatsämter bekleideten und ihr Schreiben als Dienst an der Polis verstanden, blieb er ein Außenseiter und verstand sich in erster Linie als Künstler. Zum Teil lag das wohl auch an seinem Alter. Aischylos war bereits 45 Jahre alt und Sophokles immerhin schon ein Jugendlicher von 15 Jahren, als Athen 480 v. Chr. in der Schlacht von Salamis die Perser besiegte und zur Alleinherrscherin über den Mittelmeerraum aufstieg. Euripides war zu dieser Zeit gerade vier Jahre alt, nach anderen Quellen kam er im selben Jahr auf die Welt. Er war also ein Nachkriegskind. Dazu kommt, dass seine Eltern keine alteingesessenen Athener waren, sondern erst wegen des erwähnten Krieges von Salamis nach Athen gezogen waren. Nach der Überlieferung ist Euripides immer wieder nach Salamis zurückgekehrt, um dort in völliger Abgeschiedenheit seine Stücke zu schreiben. Er blieb ein Einzelgänger, der aus der kritischen Distanz heraus die Athener Gesellschaft und ihre Politik beobachtete. So erklärt sich auch die Perspektive, aus der er Die Troerinnen schrieb – als pessimistischen Kommentar auf Athens Entscheidung, nach einer kurzen Friedensphase während des Peleponnesischen Krieges, dem sogenannten Nikiasfrieden im Jahr 416 v. Chr., eine Invasion von Syrakus auf Sizilien vorzubereiten. Athen setzte gigantische finanzielle und militärische Mittel ein, um die Hafenstadt Syrakus zu belagern. Das Ende war eine vernichtende Niederlage, die 413/412 den Anfang vom Ende von Athens Vormachtstellung markierte. Außerdem hatten wenige Schlachten davor so viele Menschenleben gefordert.
Vor diesem Hintergrund nahm sich Euripides 415 einen der wichtigsten Mythen vor, den Krieg um Troja, den im Athen der Antike jedes Kind kannte, um daran zu erzählen, dass es in einem Krieg am Ende immer nur Verlierer gibt – egal wer die Schlacht gewinnt. Mit dieser Haltung hat sich Euripides, wenig überraschend, nicht nur Freunde gemacht.
Peter Hilton Fliegel
Impressum
HERAUSGEBER Stadttheater Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 19
INTENDANT Lars Tietje
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Peter Hilton Fliegel
QUELLEN
Joachim Latacz: Einführung in die griechische Tragödie, 2. Auflage, Göttingen 2003.
Die Troerinnen (Der Untergang) von Walter Jens und Euripides, Theaterverlag Desch GmbH, Berlin
Die Texte «Eine Welt des Zufalls» und «Der große Zweifler» von Peter Hilton Fliegel sind Originalbeiträge für diesen Programmflyer.
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