Facetten des Fremden
Würde man das Fremde als ein Spezialthema behandeln, so hätte man es von vornherein verfehlt. Man würde von einem Bereich des Vertrauten und Bekannten ausgehen, und wenn alles gut geht, würde man ebendorthin zurückkehren. Man würde durch die Erfahrung des Fremden verändert, vielleicht auch geläutert, doch am Ende hätte die ursprüngliche Vertrautheit gesiegt. Sie hätte sich lediglich erweitert oder vertieft. Davon abgesehen ist das Fremde nicht ungefährlich, es droht uns von uns selbst zu entfremden. So kommt es zu wiederholten Abwehrmaßnahmen, Rettungsversuchen und Aneignungsbemühungen. Doch bliebe es dabei, so würden die Position eines Subjekts, das bei sich zu Hause ist, und die Bastionen einer Ordnung, die Ungeordnetes von sich abscheidet, nicht von innen her erschüttert. Fremdes kann uns neugierig machen, es kann uns zu eigenen Erfindungen anregen, es kann uns über uns selbst aufklären - all dies wäre zugestanden. Doch sobald das Fremde in das Arkanum der Freiheit und in das der Vernunft vordringt, herrscht Chaosalarm. Freiheit und Vernunft greifen zu den Waffen. Wären sie nicht wehrhaft, so würden sie sich selbst aufgeben. Fremdheit schlägt schließlich um in Feindschaft, die sich als um so unerbittlicher erweist, je mehr jede Partei das Recht auf ihrer Seite zu haben glaubt. Man ist auf der Hut, man rückt zusammen. In das Netz einer Erfahrung, die von Eigenem ausgeht und im Gemeinsamen Halt sucht, sind Sicherungen eingebaut. Fremdes, von dem man annimmt, daß es lediglich von außen kommt, muß sich ausweisen wie ein Eindringling. Es wird einer Bewertung und Beurteilung unterworfen. Ihm wird eine alltägliche, moralische, politische, religiöse, kulturelle und auch gedankliche Quarantäne zugemutet. […]
«Fremde, die ich nie in meinem Leben gesehen habe, kommen übers Meer und greifen sich ein Mädchen, um an einen Pass zu kommen.»Eddie in Ein Blick von der Brücke
An den Grenzen einer jeden Ordnung taucht Fremdes auf in Gestalt eines Außerordentlichen, das in der jeweiligen Ordnung keinen Platz findet, das aber als Ausgeschlossenes nicht nichts ist. Indem es nicht schlechthin, sondern aus einer bestimmten Ordnung ausgeschlossen ist, bedeutet es mehr als das Grau in Grau bloßer Unbestimmtheit, und indem es an unsere Sinne appelliert, besagt es mehr als ein Geräusch, gegen das man sich so gut es geht abschirmt. Diese Ausgangslage, die uns mit Unfaßlichem im Faßbaren, mit Ungeregeltem im Geregelten, mit Unsichtbarem im Sichtbaren, mit Unerhörtem im Gehörten konfrontiert, setzt sich um in eine Kette von Untersuchungen, die allesamt um die Frage kreisen: Wie können wir auf Fremdes eingehen, ohne schon durch die Art des Umgangs seine Wirkungen, seine Herausforderungen und seine Ansprüche zu neutralisieren oder zu verleugnen?
Bernhard Waldenfels
Millers scheiternde Protagonisten
Arthur Miller war einer der bedeutendsten amerikanischen Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Er setzte sich in seinen Werken kritisch mit sozialen und politischen Phänomenen auseinander. Vor allem zeigte er in seinen Werken die Grenzen des «American Way Of Life» auf und legte so gesellschaftliche Probleme offen. Er zeigte wie limitiert häufig der Handlungsspielraum einzelner Menschen ist. Miller appellierte aber auch immer wieder an die Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft und macht so jeden, der sich nicht in einer moralischen Verantwortung sieht, zum Mitschuldigen.
Vor allem seine Protagonisten finden sich häufig in prekären Lebensverhältnissen wieder, aus denen es scheinbar keinen Ausweg gibt. Sie haben sich durch gesellschaftlichen Druck in verfahrene Situationen manövriert. Das Leben dieser Figuren nimmt in den bedeutenden Stücken von Miller immer ein tragisches Ende. In dem Drama Tod eines Handlungsreisenden, welches 1949 veröffentlicht wurde, erzählt Miller die Geschichte von Willy Loman, der nicht genug verdient, um seine Familie zu versorgen und sich somit in einer kapitalistischen Welt nicht behaupten kann. Willy leidet zunehmend unter gesundheitlichen und mentalen Problemen, die ihn dazu verleiten, sich das Leben zu nehmen und so seiner Familie mit Hilfe seiner Lebensversicherung ein besseres Leben zu ermöglichen.
In seinem Theaterstück Hexenjagd von 1953 wird die junge Abigail Williams mit einer Gruppe anderer Mädchen in einem Wald bei Salem in Massachusetts bei mysteriösen Ritualen beobachtet. Aus Angst vor einer Strafe, beschuldigen sie andere Bewohner der Stadt Hexerei zu betreiben. Dies löst Angst in der Gesellschaft aus und führt zu einer Massenhysterie. Besonders John Proctor, ein angesehener Bauer dieser Stadt, der einmal eine Affäre mit Abigail hatte, wird in die Ereignisse mit hineingezogen. Abigail beschuldigt Proctors Frau Elizabeth, um diese aus dem Weg zu räumen und Proctor für sich zu gewinnen. Proctor versucht die Wahrheit ans Licht zu bringen, wird dann selbst der Hexerei angeklagt und muss sich am Ende vor Gericht verantworten. Es wird von ihm verlangt, zu gestehen, dass er ebenfalls ein Bündnis mit dem Teufel eingegangen ist. Nur so würde er dem Tod entkommen und nicht gehängt werden. Doch er entscheidet sich für die Wahrheit und somit endet der Konflikt mit Proctors Tod.
In Alle meine Söhne von 1947 hat sich der Protagonist Joe Keller mit seiner Familie ein Leben in Wohlstand aufgebaut. Er leitet eine Firma, die Flugzeugteile herstellt und an die Luftwaffe liefert. In der Vergangenheit unterlief ihm beim Prüfen einzelner Teile ein Fehler, und seine Firma lieferte defekte Flugzeugteile aus, die dann auch verbaut wurden. Ein Flugzeug stürzte ab und dabei starben 21 Menschen. Verurteilt wurde damals aber nur sein Firmenpartner und nicht er. Joe Keller versucht dennoch nach außen die Heile-Welt-Fassade aufrechtzuerhalten, bis ihn ein Brief seines vermissten Sohnes erreicht, der für die Luftwaffe arbeitete. Dieser erfuhr von seiner Tat und klagt ihn nun in einem Brief dafür an, dass Kameraden durch den Fehler und die Geschäfte seines Vaters gestorben sind. Joe Keller kann dem Druck nicht standhalten und nimmt sich das Leben.
«Wieviel kann ein Mann verdienen? Wir arbeiten hart. Wir arbeiten Tag und Nacht, wenn es sein muss.»Rodolpho in Ein Blick von der Brücke
Im 1955 veröffentlichten Drama Ein Blick von der Brücke hat sich Eddie Carbone mit viel harter Arbeit in Brooklyn ein Leben aufgebaut. Er arbeitet im Hafen und lebt mit seiner Frau Beatrice und seiner Nichte Catherine, die er wie seine eigene Tochter liebt, in einem Haus in Red Hook. Er pflegt seine Kontakte zur Nachbarschaft, geht regelmäßig zum Bowling. Als eines Tages zwei Cousins von Beatrice illegal aus Italien einwandern, um in New York zu arbeiten und Geld zu verdienen, und bei Eddie unterkommen, werden die routinierten und familiären Strukturen gestört. Catherine verliebt sich in einen von ihnen und weckt so Eddies Eifersucht. Eddie schafft es nicht, sich von seiner Ziehtochter zu lösen und schlägt einen Weg ein, der am Ende nicht mehr rückgängig zu machen ist. Er verrät seine eigene Familie und meldet Beatrices Cousins bei der Einwanderungsbehörde. Er erntet Verachtung von der eigenen Familie und auch von der Nachbarschaft. Es endet in einem Kampf zwischen Marco und Eddie, wobei Eddie ein Messer zückt. Marco kann sich wehren. Während der Auseinandersetzung dreht sich jedoch das Messer und ersticht Eddie. Eddie Carbone reiht sich in die Reihe der scheiternden Figuren bei Miller ein. Er stirbt durch die Klinge seines eigenen Messers.
Der Druck, in der Gesellschaft zu bestehen, wird für Millers Protagonisten zu groß. Sie halten bewusst oder unbewusst an gesellschaftlichen Konstrukten fest, die nach außen ein wertvolles Leben vortäuschen. Sie zeigen auf, dass hinter jeder Fassade eine Zerbrechlichkeit steckt, die in einer neoliberalen Welt keinen Platz hat. Etabliert zu sein und sich etwas aufgebaut zu haben suggeriert zum einen Sicherheit und Zugehörigkeit, zum anderen ermöglicht es Anerkennung. All dies aufzugeben oder zu verlieren, macht angreifbar und verletzlich. Miller lässt die Figuren scheitern und an dem Druck zerbrechen, um immer wieder die gesellschaftlich festgefahrenen Strukturen zu hinterfragen. Die Ohnmacht, die er in seine Figuren hineinschreibt, überträgt sich beim Lesen und Schauen seiner Werke auf die Rezipierenden. Ein Gefühl von Machtlosigkeit bleibt zurück und hinterlässt den Wunsch, Lösungen zu finden, um sich aus dieser zu befreien.
Justine Wiechmann
Impressum
HERAUSGEBER Stadttheater Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 9
INTENDANT Lars Tietje
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Justine Wiechmann
QUELLEN
Arthur Miller «Ein Blick von der Brücke», S. Fischer Verlag GmbH THEATER & MEDIEN, Frankfurt am Main 1989. // Bernhard Waldenfels «Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden», Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006.
Der Text «Millers scheiternde Protagonisten» von Justine Wiechmann ist ein Originalbeiträge für diesen Programmflyer. Die Texte wurden zum Teil redaktionell gekürzt oder bearbeitet.Urheber:innen, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.