Handlung
1. Akt
Das allherrschende Gesetz in Turandots Reich wird verkündet: Wer sie heiraten möchte, muss drei Rätsel lösen. Wer die Prüfung besteht, bekommt sie zur Frau. Wer scheitert, wird hingerichtet. Die Menge jubelt. Unter ihnen sind Timur und Liù. Als Timur stürzt, kommt ein Unbekannter zur Hilfe. Es ist dessen Sohn Calàf.
Turandot erscheint, und Calàf ist sofort besessen von ihr.
Liù gesteht Calàf ihre Liebe. Doch dieser ist trotz der Warnungen seines Vaters und Liùs entschieden: Er will sich den Rätseln von Turandot stellen.
2. Akt
Turandots Minister des Todes Ping, Pang und Pong verwalten die Hinrichtungen und Begräbnisse. Sie träumen von besseren Welten.
Auch Kaiser Altoum versucht, Calàf von seinem schicksalhaften Plan abzubringen. Vergebens.
Turandot erklärt, warum sie so eiskalt ist und dass sie wegen der Schändung ihrer Vorfahrin jeden töten wird, der sie heiraten möchte. Sie stellt ihre Rätsel. Calàf kann jedes lösen.
Er dreht den Spieß um und stellt nun eine Rückfrage: Kann Turandot bis zum Morgengrauen seinen Namen herausfinden, sei sein Leben in ihren Händen.
3. Akt
Turandot hat verfügt, dass niemand schläft, bis der Name des Fremden bekannt ist.
Timur und Liù werden gewaltsam zu Turandot gebracht. Beide sollen den Namen kennen. Doch beide schweigen. Selbst unter Androhung von Folter. Woher sie die Kraft habe, so standhaft zu sein, fragt Turandot Liù. Es sei die Liebe. Liù stirbt.
Calàf beschuldigt Turandot, nun auch das Leben Liùs auf dem Gewissen zu haben. Dennoch ist er versessen, zu siegen. Er versucht, sie mit einem Kuss zu bekehren. Turandot steht am Ende allein da. Hat sie gesiegt oder wurde sie besiegt?
Auf einen Tee mit dem Tod
Mit kalten, harten Schlägen beginnt die Oper. Und es wird schnell klar: Düster ist das Reich von Turandot. Seit Jahren lebt sie hinter den Mauern ihres Palastes und lässt alle Männer köpfen, die sich für sie interessieren. Das System ist simpel: Ein Mann kommt, sieht Turandot und verliebt sich in sie. Er fordert die drei Rätsel ein, die sie den Interessenten stellt, und besiegelt damit sein Schicksal. Denn bis jetzt hat diese niemand gelöst. Ein ganzes Volk lebt auf Kosten von Geköpften. Gewalt, Blut und Tod sind Alltag im Reich von Turandot.
Es ist das Destillat eines orientalischen Märchens, in dem eine Prinzessin überzeugt werden soll, dass Männer vertrauensvoll sind und im Herzen gut. Grundlage ist eine persische Erzählung aus dem Epos Sieben Schönheiten von Nezami, die durch die Märchensammlung Tausendundein Tag des französischen Orientalisten François Pétis de la Croix auch im Westen bekannt wird. Turandot bedeutet Tochter des Turan, ein Teil des Persischen Reichs in Zentralasien, wo heute Afghanistan, Usbekistan und Tadschikistan liegen. Dass von seinen Opern nur drei in seinem Heimatland Italien spielen, zeigt, wie sehr Puccini sich für ferne Kulturräume interessiert. Und so ist er offenen Ohres, als ihm der Librettist Renato Simoni bei einem Restaurantbesuch eine Kopie von Carlo Gozzis Turandot gibt, das wiederum auf de la Croix’ Sammlung beruht. Gozzis Stück ist ein tragikomisches Märchen, in dem die Protagonistin innerlich zerrissen ist und zum Schutz unmenschlich wird. Gemeinsam mit Giuseppe Adami schreibt Renato Simoni das Libretto auf Grundlage einer italienischen Übersetzung der deutschen Nachdichtung des Stoffes von Schiller. Dessen Turandot ist ein düsteres Spiel, das nichts mit Gozzis Komik zu tun hat. Turandot wird zur Eisprinzessin, die sich nicht in die Karten schauen lässt.
Das dramaturgisch geschlossene Erzählen, das wir beispielsweise von La Bohème oder Tosca kennen, suchen wir in Turandot vergebens.
Figurenbögen und Situationen sind nicht so ausdifferenziert, wie für Puccini üblich. Stattdessen treffen wir auf Ausrufezeichen, die weder hergeleitet noch begründet werden. Warum Calàf und sein Vater Timur sich bei Turandot treffen: nicht geklärt. Warum Calàf sich in Turandot verliebt und bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen: auch nicht geklärt. Warum Liù sich für Calàf opfert: eine fragwürdige Entscheidung. Selbst der Chor kommt unentschlossen daher: in einem Moment blutrünstig, kurz darauf mitleidsvoll. Fest steht: Turandot will die Misshandlung einer Vorfahrin rächen. Und offensichtlich scheint sie sich nur im Schmerz zu spüren, was sie nahebringt zu einer Carmen, einer Dalila oder Salome. Sie nimmt in Kauf, mehrere Menschen auf dem Gewissen zu haben, weil jede Form von menschlicher oder sexueller Nähe undenkbar ist für sie. Sie muss das Trauma überdecken. Sich einem Rausch hingeben.
Ihr gegenüber steht Liù. Stattet Puccini seine Protagonistin musikalisch noch mit einer blechlastigen Orchestrierung aus, atmet Liùs Musik nahezu engelhafte Luft, von warmen Holzbläsern oder einer himmlischen Harfe getragen. Verkörpert Turandot das Bild einer modernen Frau, die der Abhängigkeit vom Mann abschwört und auf Missstände sowie Missbrauch hinweist, steht Liù stellvertretend für eine «alte» Liebe, ein romantisiertes, aus heutiger Sicht verklärtes Bild im Kontext eines deterministischen Biologieverständnisses. Zwischen beiden Frauen steht Calàf. Ein Mann mit ebenfalls «alten» Idealen, die jedoch viel toxischer und selbstsüchtiger sind als rechtschaffend. Immerhin: Calàf hat den Mut, nein zu sagen.
Er widerspricht Turandot und scheint der erste, der wirklich hinschaut und sich nicht von der Fassade der Eisprinzessin abschrecken lässt. Er setzt alles auf eine Karte, hat nichts zu verlieren. Das Problem: Er verwechselt Liebe mit Krieg und will «glorreich» siegen. Calàf will eine Frau besitzen, der menschliche Nähe fremd ist. Möglicherweise hat sie innerlich das Verlangen, eine unbekannte Seite zu erleben. Und doch: Turandot ist Projektionsfläche.
Mehr nicht. Calàf will Turandot. Liù will Calàf. Und Turandot?
Ping, Pang und Pong singen, dass Turandot nicht existiere. Was sie damit genau meinen: nicht geklärt. Vielleicht deutet es das System an, in das sie geboren wird, aus dem sie nicht ausbrechen kann und demnach nicht «sein». Vielleicht ist das Konzept der Femme fatale gemeint, ein männergemachtes, das ihr das Kleid der blutrünstigen, racheschwörenden, mordenden Frau überstülpt und sie zur Trophäe verklärt, um die es als Mann zu kämpfen gilt. Vielleicht ist eine Art kollektive Einbildung einer brutalen Masse gemeint, die sich aus Herrschaft, Angst und terroristischer Verfolgung zusammensetzt und für ihre hemmungslosen Gewaltfantasien ein Ventil benötigt – keine Lösung im Privaten, sondern in der Dimension einer Masse. Vielleicht hätte Puccini uns eine konkrete Antwort gegeben, wäre er nicht vor der Fertigstellung von Turandot gestorben.
«Turandot existiert nicht.»Ping, Pang, Pong
Das Team um Regisseur und Bühnenbildner Philipp Westerbarkei und Kostümbildner Tassilo Tesche erzählt das Stück als Rausch des Lebens in einem Art déco-Stil der 1920er, der Entstehungszeit der Oper. Dazu Westerbarkei: «1926 – spannende Zeiten: Wir befinden uns zwischen Weltkriegen, und die Gesellschaft rast auf eine Weltwirtschaftskrise zu. Politische Unruhen, eine hohe Kriminalitätsrate und der Tod gehören zum Alltag in den europäischen Metropolen. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen wandelt sich, denn die einst so glorreich in den Krieg gezogenen Männer kommen physisch wie psychisch versehrt zurück. Die Frauen, die im Ersten Weltkrieg lernen mussten, allein klarzukommen, die Familien zu ernähren und das Land durch ihre Arbeit in der Rüstungsindustrie zu unterstützen, sollen wieder in die zweite Reihe zurücktreten. Was macht das mit dem Verhältnis zwischen Mann und Frau?» Eine gewichtige Frage, die die Kernaussage der Oper trifft. Denn Turandot überlegt, ob sie den Mann besiegen soll, um inneren Frieden zu finden, oder, ob sie es ist, die besiegt werden muss. Dafür rät Calàf zunächst dreimal, und er hat die Antworten parat. Das Rätsel Turandot hingegen bleibt ungelöst. Und vielleicht gilt es, dieses zu bewahren.
Markus Tatzig
Rätsel
I.
Durch die finstere Nacht
schwebt ein schillerndes Phantom.
Er steigt empor und breitet die Flügel aus
über der schwarzen, unendlichen
Menge der Menschheit.
Die ganze Welt beschwört es.
Und die ganze Welt fleht es an.
Das Phantom verschwindet
in der Morgenröte,
um im Herzen
wiedergeboren zu werden.
Jede Nacht wird es geboren.
Jeden Tag stirbt es.
Antwort: Die Hoffnung.
II.
Es lodert wie eine Flamme.
Aber es ist keine Flamme.
Manchmal ist es Raserei.
Es ist ein heftiges, glühendes Fieber.
Trägheit verwandelt es in Sehnsucht.
Wenn du zugrunde gehst, erkaltet es.
Wenn du den Sieg erträumst, glüht es auf.
Es hat eine Stimme, der du fiebrig zuhörst.
Gleich der Sonne am Abend ist sein Glanz.
Antwort: Das Blut.
III.
Eis, das dich entzündet
und durch dein Feuer noch mehr vereist.
Schneeweiß und doch dunkel.
Wenn sie deine Freiheit will,
macht sie dich noch mehr zum Knecht.
Wenn sie dich als Knecht annimmt,
macht sie dich zum König.
Antwort: Turandot.
Impressum
HERAUSGEBER Stadttheater Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 2
INTENDANT Lars Tietje
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Markus Tatzig
QUELLEN
Dryden, Konrad: Franco Alfano. Transcending Turandot. Lanham 2010.
Jacobshagen, Arnold: Giacomo Puccini und seine Zeit. Lilienthal 2024.
Wilson, Alexandra (Hrsg.): Puccini in context. New York 2023.
Die Texte «Handlung» und «Auf einen Tee mit dem Tod» von Markus Tatzig sind Originalbeiträge für diesen Programmflyer. Weitere Zitate und Texte wurden teils redaktionell bearbeitet.
Urheber:innen, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.