Zuhören
An diesem Abend haben Sie die Chance den Figuren, den Schauspieler:innen und den Autor:innen gleichzeitig zuzuhören. In dieser Inszenierung verschwimmen die Grenzen zwischen biographischen und fiktionalen Texten. Was die Figuren beschäftigt, hat auch die Schauspielerin oder den Schauspieler in einer ähnlichen Art und Weise einmal beschäftigt. Es sind Geschichten aus ihrem Leben oder Erzählungen, die von Erlebnissen und Gedanken des jeweiligen Lebens beeinflusst wurden. Wenn Sie einmal die Augen schließen und genau hinhören, dann können Sie die Person, die Ihnen gegenüber auf der Bühne sitzt und ihre Geschichte erzählt, vielleicht ein bisschen besser sehen.
Im Dezember 2023 begann das Kooperationsprojekt Die Welt zwischen den Nachrichten. Eine gemeinsame Arbeit der bremer shakespeare company und dem Stadttheater Bremerhaven. Zwei Institutionen, die Theater machen – aber eben sehr unterschiedlich. Während die bremer shakespeare company als Verein im Kollektiv selbstverwaltet arbeitet, funktioniert das Stadttheater Bremerhaven durch klare Aufgabenteilung. Für die Zusammenarbeit war es daher von besonderer Bedeutung, dass wir gut miteinander kommunizieren und dazu gehört nicht nur das Reden, sondern vor allem das Zuhören. Welche Probenroutinen gibt es? Welche Regeln, Rechte und Pflichten müssen eingehalten werden? Wie sind die unterschiedlichen Bedürfnisse? Wer übernimmt welche zusätzlichen Aufgaben? Und was können wir gegenseitig voneinander lernen. All das galt es zu verstehen und auszuhandeln, um eine konstruktive Zusammenarbeit zu ermöglichen.
Zuhören spielte nicht nur im strukturellen Arbeitsprozess eine Rolle, sondern begleitete uns auch inhaltlich durch das gesamte Projekt. Das Setting, eine Night Radio Show, lebt vom Zuhören. Die Figuren, die in dieser Night Radio Show anrufen, tun dies, damit ihnen zugehört wird. Der Moderator Martin Gerlach hat für alle seine Anrufer:innen ein offenes Ohr. Sie können ihm ihre Geschichten erzählen und er gibt ihnen den Raum dafür. Frau Behrenson, Frau Winter, Rosa und Bea nutzen diesen Raum des Zuhörens ganz unterschiedlich. Es sind nicht nur Sorgen, die mitgeteilt werden wollen, vielmehr sind es Gedanken, die diese Figuren beschäftigen: Wie sieht ein geglückter Tag aus und warum kann Thomas Manns Zauberberg einen ein Leben lang beschäftigen? Themen, die erzählt werden wollen und die ein Gehör finden müssen. Auch, wenn die Zuhörkapazitäten häufig schon durch viele Nachrichten erschöpft sind und wenig Platz für die Geschichten dazwischen bleibt.
«Ich kann Menschen sehen, wenn ich ihre Stimme höre.»Rosa
Wie geht es denn Ihnen? Wann wurde Ihnen das letzte Mal zugehört und wann haben Sie zum letzten Mal jemanden zugehört. Oder besser gesagt: Wann haben Sie zuletzt vernommen? In Die Welt zwischen den Nachrichten äußert Frau Behrenson treffend: «Vernehmen ist nicht zuhören. Vernehmen ist, wenn mehr das Herz als die Ohren hinlauschen…».
Nehmen Sie sich Zeit und hören den Menschen in ihrer Umgebung genau zu? Hören Sie allen gleich zu oder machen Sie im Zuhören Unterschiede? Warten Sie schon darauf, antworten zu können oder halten Sie es aus, nur dem Gesagten den Raum zu geben?
Im Bereich der Kommunikationswissenschaften gibt es seit etwa 60Jahren das Gebiet der Zuhörforschung. Die Wissenschaftlerin Prof. Dr. Margarete Imhof erklärt, dass in diesem Kontext psychologische und neurologische Vorgänge des Zuhörens untersucht werden: «Welche Eindrücke bildet sich der Zuhörer von dem Sprecher oder der Sprecherin? Wie werden Informationen sortiert, zusammengestellt, aber auch ignoriert und verdrängt?» Zuhören spielt aber nicht nur auf der engeren Beziehungsebene zwischen zwei Menschen eine Rolle, sondern hat auch politische und soziale Dimensionen. Wird nicht richtig zugehört, entstehen Konflikte, Entscheidungen müssen revidiert werden und so verzögern sich Entwicklungsprozesse.
Kulturpolitisch kann Zuhören bedeuten: Ich gebe den Menschen eine Stimme. Ein Ungleichgewicht in der Gesellschaft erzeugt eine Hierarchie und durch diese Hierarchie entstehen Machtunterschiede. Die größere Gruppe entscheidet allein dadurch, dass sie größer ist, gegenüber einer kleineren Gruppe, ob diese gehört wird oder nicht. Hören wir als Gruppe, als Gesellschaft genau zu, können wir Diskriminierungsprozessen entgegenwirken. Eine funktionierende Gesellschaft lebt also davon sich gegenseitig zuzuhören.
Gleichzeitig befinden wir uns aber in einer schnelllebigen Zeit, in der es gar nicht so einfach ist zuzuhören. Es prasseln tagtäglich wahnsinnig viele Informationen auf einen ein und da gilt es zu filtern. Dadurch sind die Kapazitäten gar nicht immer da zuzuhören. Zudem wird unsere Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer, es fehlt die Fähigkeit, sich lange konzentrieren zu können.
Es gibt aber Hoffnung: Zuhören kann erlernt und trainiert werden. Voraussetzung ist ein konzentrierter Rahmen, in dem ablenkende Quellen wie z. B. das Mobilfunktelefon keine Rolle spielen. Die Person, die spricht, sollte aussprechen können. Beim Zuhören ist es wichtig, sich zu entspannen. Es können Rückfragen zum Erzählten gestellt werden oder der Inhalt kann zum Verständnis kurz zusammengefasst werden. Es ist aber unbedingt wichtig, das Erzählte nicht zu bewerten oder ungefragt Ratschläge zu erteilen. Blickkontakt und eine zugewandte Körperhaltung unterstützen den Prozess des Zuhörens.
Justine Wiechmann
Autor:in. Spieler:in. Figur.
Die Produktion Die Welt zwischen den Nachrichten hat mit einem unbeschriebenen Blatt Papier und einer Schreibwerkstatt begonnen. Ziel dieser war es eine Textfassung für eine Night Radio Show mit einem Moderator, vier Anrufer:innen und einer Dark Lady zu gestalten. Sechs Schauspieler:innen von der bremer shakespeare company und vom Stadttheater Bremerhaven haben sich gemeinsam mit der Autorin und Regisseurin Judith Kuckart dieser Herausforderung gestellt. Inspirationsquelle für die Schreibenden sollten Shakespeares Sonette und die Frage, inwieweit ein Buch oder ein Gedicht sie einmal gerettet hat, sein. Während dieses Schreib- und Reflektionsprozesses setzten sich die Schauspieler:innen mit ihrem Lieblingssonett ausein-ander, schrieben am 28. Dezember 2023, also zwischen den Jahren, ausführlich Tagebuch, kreierten selbst das ein oder andere Sonett und beschäftigten sich u.a. damit, wie das Ende ihres Lebens aussehen könnte. All die Texte filterte, gestaltete und montierte Judith Kuckart im Sommer 2024 dann zu einer Spielfassung, mit der in der Spielzeit 2024/2025 dann geprobt werden konnte.
Justine Wiechmann
Ableben.
Ich hasse Dinge, die ich nicht weiß. Vorgänge, die ich mir nur vorstellen kann, weil sie im Leben nicht erfahrbar sind, beziehungsweise, weil sie nur einmal im Leben zu erleben, also zu erfahren sind.
Sterben, zum Beispiel. Meine Tochter ist bei mir, sie will meinen 97.Geburtstag mit mir feiern. Das freut mich! Denn es ist – wie gewünscht – auch mein Todestag. Wir machen uns gemeinsam auf den Weg – innerlich und körperlich, das würde mir fürs Ende reichen.
Dass ich sie überall, wo sie noch arbeiten wird, auch weiter besuchen werde, – nämlich in Peking, Seoul, in Doha bei dem Nachrichten-sender Al Jazeera, in Washington. Das weiß ich. Ich gehe sie weiter besuchen, auch wenn ich tot bin. Wir können von Räumen träumen, die sich mit etwas Gutem füllen, oder? Meine Tochter ist nun, also dann, an meinem 97. Geburtstag, schon 64, die alte Schachtel und tut noch immer so, als wäre sie 50! Aber ich liebe sie!!!!
«Ich hätte gerne ein verträgliches Ende.»
Wir, also meine Tochter und ich, schauen dann, also nun an meinem 97. Geburtstag, der auch mein Todestag ist, noch mal wie damals bei unserem ersten Besuch auf die verbotene Stadt in Peking runter, meine Tochter und ich, wir schmeißen uns noch einmal gemeinsam in die Wellen des Atlantiks bei Bordeaux, wir beobachten in unserem Garten in Bielefeld auf dem Boden liegend Regenwürmer, ich verspreche ihr noch einmal, jedes Tier, das ich retten kann, auch zu retten, wir gehen noch einmal in London gemeinsam einkaufen, besteigen den Eiffelturm und sitzen in der Jahn-Passage in Bielefeld und essen fürchterlichen gebratenen Reis mit Gemüse beim Chinesen, den sie für das Allertollste hielt, damals, als sie 12 Jahre alt war. Wir sitzen noch mal im Helikopter Richtung Krankenhaus, in dem wir saßen, als sie sich mitten im Schwarzwald den Arm gebrochen hatte und sehen uns die Tannen aus der Vogelperspektive an und stehen noch einmal auf jenem Hügel, dessen Namen ich nicht mehr weiß und schauen in jener warmen Nacht auf das beleuchtete Teheran runter und singen mit fünf Frauen und einem Bodyguard lauthals I love you, baby, …. das heißt der Bodyguard singt nicht mit…. Gegen Mitternacht, dann, wenn es soweit ist, nimmt mich meine Tochter an die Hand, wie ich es früher mal getan habe, als sie drei Jahre alt war und ich sie vom Kindergarten abgeholt habe (damals hieß es noch Kindergarten und nicht Kita) und sie führt mich zum Bett, schlägt die Bettdecke zurück, ich krieche widerstandslos unter die Decke, sie streichelt mir über den Kopf und ich schlafe beruhigt ein, weil sie ja bei mir ist und ich sowieso auf diesem letzten Weg nicht alleine bin. Mein Mann holt mich auf der Hälfte ab und wir gehen ganz einfach zu zweit, Hand in Hand weiter.
Gehen weg…. Leider höre ich meine Tochter weinen. Mist, ich sterbe zu früh, ich bin nur 96 geworden!
Frau Behrenson
Impressum
HERAUSGEBER Stadttheater Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 4
INTENDANT Lars Tietje
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Justine Wiechmann
QUELLEN
Die Welt zwischen den Nachrichten – William Shakespeares Sonette als Medizin gegen nächtliche Einsamkeit von Judith Kuckart und Ensemble, henschel Schauspiel Theaterverlag Berlin.
Hinrichs, Dörte; Röhrlich, Dagmar; Watty, Christine Watty; Thomey, Emily. «Zuhören lernen – wie geht das?», In: Deutschlandfunk, 6. September 2023, www.deutschlandfunk.de/aktives-zuhoeren-lernen-kommunikation-100.html; letzter Zugriff am 16.09.24.
Die Texte wurden zum Teil redaktionell gekürzt oder bearbeitet.
Urheber:innen, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Eine koproduktion mit der bremer shakespeare company
MEDIENPARTNER Radio Bremen