Handlung
1. Akt
Peer Gynt ist ein Aufschneider. Ein Fantast. Ein Träumer. Seine Geschichten sind größer als das Leben im norwegischen Dorf. Auf einer Hochzeit überschreitet er alle Grenzen: Er reißt Ingrid, die Braut eines anderen, mit sich in den Wald. Sie scheint ihm zu verfallen. Doch Peer stößt sie von sich. Er flieht in die Berge. Im Reich der Trolle begegnen ihm groteske Figuren. Peer soll die Grüne heiraten, die triebhafte, animalische Tochter des Trollkönigs. Doch Peer entkommt – vor allem sich selbst. Solveig, ein Mädchen aus dem Dorf, sucht Peer mit dessen Mutter Åse. Geduldig findet sie Verständnis für Peers wankelmütiges Treiben. Sie könnte seine Wahrheit werden. Doch Peer geht wieder. Ein Luftgeist warnt ihn: «Du fliehst nicht.» Doch Peer flieht weiter. Åse stirbt. Peer bleibt allein und verlässt seine Heimat.
2. Akt
In Marokko wird Peer Geschäftsmann, Prophet, Betrüger. Man feiert ihn als norwegischen Messias. In Rom sieht er in einem Schlachthaus Menschen, die sich aufgegeben haben. Die Macht der Zerstörung verführt ihn und legt seine brutalen Charakterzüge frei. Solveig erscheint ihm – wie eine Erinnerung an seinen Ursprung. Zerrissen landet Peer in einer Irrenanstalt in Ägypten. Er zweifelt: Wer bin ich? Was ist Wahrheit? Was ist Lüge? Ihm wird vor Augen geführt: Er ist nur ein Denkmal seiner selbst, eine Projektionsfläche für die Möglichkeiten eines gelebten Lebens. Die Grinsekatze erscheint – spöttisch und allwissend. Sie entlarvt Peers Lügen. Er bleibt allein. Zurück in Norwegen gerät Peer auf einen Friedhof. Bei Nacht wird ein junger Mann begraben. Peer ahnt: Dieses Begräbnis gilt auch ihm. Solveig erscheint. Vergangenheit und Gegenwart berühren sich für einen Moment. Die junge Solveig singt ein Schlaflied des Friedens und der Vergebung. In der späten Vereinigung mit seiner Seelenverwandten findet Peer endlich Frieden. Und seine Geschichten Unendlichkeit.
Wirklich? Wirklich.
Konzepte von Realitäten in Jüri Reinveres Peer Gynt
Es gibt nicht die eine Realität. Zumindest nicht für Peer Gynt. Wer er ist – Hochstapler, Suchender, Lügner, Träumer, Prophet, Geschäftsmann, Seelenflüchtling – bleibt selbst am Ende seiner Reise ungewiss. Jüri Reinvere nimmt die alte Geschichte von Henrik Ibsen und treibt sie in einen Zustand radikaler Uneindeutigkeit. Die Orte verschwimmen. Die Stimmen verschieben sich. Die Sprache streckt sich, verdichtet sich, springt. So entsteht ein Werk, das sich nicht erzählt, sondern entfaltet wie ein innerer Raum: voller Widersprüche, Zerrbilder, Hoffnungsschimmer. Das immer wieder Fragen aufwirft: Wo sind wir gerade? Im norwegischen Dorf? In Peers Kopf? Im Reich der Trolle? Im Fieber? Im Tod? Oder im Theater?
Alles ist echt. Alles ist gemacht.
Reinveres Peer Gynt ist keine Nacherzählung von Ibsens Drama, sondern ein Werk eigener Stimme. Sprache und Musik stehen sich darin gegenüber wie zwei spiegelnde Wasserflächen: Was in der einen greifbar scheint, entgleitet in der anderen. Die Komposition verweigert sich der Ironie und durchdringt stattdessen mit neoromantischer Tiefe und seismografischer Klangfeinheit die inneren Zustände der Figuren. Manchmal fühlt man sich an Parsifal erinnert – in der Langsamkeit, im Ernst, in der metaphysischen Geduld. Realitäten, das wird in dieser Oper schnell klar, sind Zustände. Innen und außen. Gesellschaftlich und psychologisch. Vielleicht auch musikalisch.
Peer ist viele. Und keiner.
Was Reinvere aus dem Stoff schält, ist keine stringente Lebensgeschichte, sondern eine seelische Geografie. Peer flieht nicht von Ort zu Ort, sondern von einem Selbstbild ins nächste. Er ist verkannt, verspottet, bewundert, gefeiert, einsam, überheblich, verloren – und nie ganz bei sich. Er will nicht sterben, weil er nie wirklich gelebt hat. Oder anders: nie gewusst hat, wer da eigentlich lebt. Und so begegnet er sich selbst in Gestalten, Fragmenten, Stimmen. Solveig erinnert ihn an eine mögliche Erlösung, an Liebe, an Halt – vielleicht. Doch auch sie bleibt unerreichbar, idealisiert, ein Bild.
Musik zwischen Sein und Schein
Reinveres Musik legt sich nicht über die Figuren, sondern strömt durch sie. Sie gibt ihnen Tiefe, wo Worte zerfallen, und Weite, wo Realitäten aufeinanderprallen. Sie ist nicht Begleiterin, sondern Durchdringerin. Zwischen Orchester und Sprache öffnet sich ein Spalt – und darin blitzt die Unsicherheit auf, ob das, was wir gerade hören, erleben, empfinden, real ist oder nur Teil der Erzählung. Vielleicht ist das die größte Stärke dieser Oper: Sie lässt sich nicht einordnen. Nicht in Zeit, nicht in Raum, nicht in Gefühl. Sie erzählt kein Leben – sie vertont eine Zersplitterung.
Frauenfiguren als Spiegel und Verheißung
Peer Gynts Welt ist auch eine Welt der Frauen. Sie stehen an den Rändern seiner Reise als Spiegel, Verheißung, Warnung oder Möglichkeit. Åse, seine Mutter, hält ihn fest – mit Fürsorge und Verzweiflung. Ingrid ist die, die er raubt – und nicht will. Die Grüne ist die, die ihn lockt – und vor der er flieht. Anitra ist die, die ihn anhimmelt – und bestiehlt. Und immer wieder Solveig: erst jung, dann alt, dann als Erscheinung zwischen Traum und Erinnerung. Sie ist Heimat und Projektionsfläche, Liebe und Ideal. Sie bleibt, ohne zu fordern. Sie wartet, ohne zu zürnen. Sie begegnet sich am Ende selbst: Die junge Solveig tritt der alten gegenüber. Vielleicht sind sie beide Teile derselben Sehnsucht.
Stimmen aus einer Zwischenwelt
Zwei Figuren stechen heraus: Der Luftgeist und die Grinsekatze. Sie gehören zu keinem Ort. Sie sind nicht Mensch, nicht Troll, nicht Begleiter. Sie sind Spiegel, Warnung, Über-Ich. Und die einzigen von Reinvere hinzugedichteten Charaktere. Er komponiert die Partien für Countertenor – ein bewusster Bruch, der auch akustisch ein «Anderssein» behauptet. Denn wo sich norwegischer Ernst und Landschaftsschwere auftürmen, bricht hier ein anderer Ton ein: britischer Humor, Ironie, Distanz. Es sind Figuren, die Peer das aussprechen lassen, was er sonst nicht hören will. Vielleicht sind sie deshalb so nah an seiner Wahrheit.
Luftgeist und PeerDu fliehst nicht!
Wer bist du?
Ein Jemand.
Wer ...?
Du. Ich bin du.
Ein Jemand.
Ein Niemand.
Die Inszenierung und das Bühnenbild von Johannes Pölzgutter nimmt dieses Changieren zwischen Wirklichkeit und Traum auf. Im Zentrum steht ein großer Holzwürfel – drei Seiten geschlossen, drei Seiten offen. Eine Projektionsfläche. Ein Innenraum. Ein Außenraum. Ein Ort, an dem Peer seine Welten baut: die norwegische Heimat, das Reich der Trolle, die Wüste Marokkos, das Schlachthaus in Rom, die Irrenanstalt in Ägypten. Die Kostüme von Tassilo Tesche spannen dabei den Bogen zwischen Realität und Symbol: Die Geschäftsmänner in Marokko etwa sind herausgeputzt, die Trolle im Wald hingegen haben keine klare Körperlichkeit. Sie scheinen eher durch Bizarres, Groteskes und Entrücktes. Videoinstallationen ergänzen die Szenerie atmosphärisch, denken den Raum weiter, brechen ihn, fokussieren ihn. Die Inszenierung will keine Antworten geben. Sie will Räume öffnen – in verschiedene Richtungen. Denn Peer Gynt ist keine griffige Geschichte. Kein geschlossenes Drama. Sondern eine Einladung, sich zu verhalten. Sich zu verlieren. Sich zu finden.
Und was bleibt?
Ein Bild. Eine Sehnsucht. Ein Blick zurück. Ein «Was wäre gewesen, wenn?» Peer kehrt zurück. Oder glaubt es. Oder wünscht es. Er will nicht in die große Masse der Belanglosigkeit zurückkehren. Und doch: Was ist von ihm geblieben? Vielleicht nur Solveigs Glaube. Oder eine Melodie. Diese Oper ist kein Porträt. Sie ist ein Spiegel, in dem sich jeder anders erkennt – flüchtig, verzerrt, aufblitzend. Und wer wirklich hinschaut, stellt sich vielleicht irgendwann selbst die Frage: Wer bin ich – und wer wäre ich gewesen, wenn ich anders gelebt hätte?
Markus Tatzig
Impressum
HERAUSGEBER Stadttheater Bremerhaven
SPIELZEIT 2024/2025, Nr. 24
INTENDANT Lars Tietje
VERWALTUNGSDIREKTORIN Franziska Grevesmühl-von Marcard
REDAKTION Markus Tatzig
QUELLEN
Danzer, Gerhard: Dichtung ist ein Akt der Revolte. Literaturpsychologische Essays über Heine, Ibsen, Shaw, Brecht und Camus. Würzburg 1996.
Heidenreich, Achim: Symmetrik mit Riss. Der Komponist Jüri Reinvere, in: Neue Zeitschrift für Musik Bd. 179. Mainz 2018.
Ibsen, Henrik: Peer Gynt. Ein dramatisches Gedicht. Kopenhagen 1867.
Reinvere, Jüri: Peer Gynt: Oper in drei Akten. Oslo 2014.
Die Texte «Handlung» und «Wirklich? Wirklich.» von Markus Tatzig sind Originalbeiträge für diesen Programmflyer. Zitate und Auszüge aus Gedichten wurden teils redaktionell bearbeitet.
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